Grenzgänger
Standortverlagerungen, Restrukturierungen oder transnationale Umstrukturierungen – meist steckt nichts Gutes hinter Schlagworten wie diesen. Sie bedeuten Gefahr für Tausende von Arbeitsplätzen und bringen die vorhandenen lokalen Mitbestimmungsmöglichkeiten nicht nur sprichwörtlich an ihre Grenzen. Umso wichtiger sind Europäische Betriebsräte (EBR). Warum? Kathryn Kortmann hat sich bei drei Gremien umgehört.

Die Solidarität ist groß: Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen im Europabetriebsrat bei Freudenberg schmiedet Bernhard Müller-Klinke grenzüberschreitende Allianzen.
Foto: Marcus Schwetasch
Losenstein im österreichischen Steyr-Land. Mehr als 100 Beschäftigte produzieren dort für die Freudenberg-Gruppe Dichtungen für namhafte Autohersteller wie BMW, Mercedes oder VW. Noch. Denn das Unternehmen mit Hauptsitz im baden-württembergischen Weinheim hat unlängst den Plan verkündet, den Standort Ende 2026 aufzugeben. Der in rund 60 Ländern agierende Mischkonzern führt „wirtschaftliche Gründe“ an. Freudenberg beliefert neben der Automobilindustrie auch die Textil- und Chemieindustrie und verantwortet zum Beispiel die namhaften Vileda-Reinigungsprodukte. Insbesondere die langsame Entwicklung im Elektrofahrzeugmarkt soll zu einer anhaltenden Unterauslastung des Werks in Losenstein geführt haben. Von der Unternehmensentscheidung sind auch zwei Standorte in Deutschland betroffen, Emmerich und Öhringen. Dorthin nämlich will Freudenberg jene Teile der Produktion aus Österreich verlagern, die „das Unternehmen auf keinen Fall verlieren will“, sagt Bernhard Müller-Klinke. Er ist seit zehn Jahren Europabetriebsrat, seit sieben Jahren Mitglied im Lenkungsausschuss des SE-Betriebsrats (SEBR) und in dieser Funktion einer der ersten, die von den Unternehmensplänen erfuhren. Bei Freudenberg gibt es einen SEBR, weil das Unternehmen eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) ist, der Europabetriebsrat daher auf dem SE-Beteiligungsgesetz beruht.
Immer dann, wenn Entscheidungen Standorte und Beschäftigte in mehreren Ländern der Europäischen Union (EU) betreffen, gebührt das Erstinformationsrecht der europäischen Arbeitnehmervertretung, so es denn eine gibt. „Knapp eine Woche, bevor die lokalen Betriebsräte und die Belegschaft in Losenstein mit der Entscheidung konfrontiert wurden, hat uns die Unternehmensspitze ihre Pläne offenbart“, erzählt Müller-Klinke. „Das ist wichtig, weil wir so frühzeitig alles in die Wege leiten können, um zeitnah mit allen beteiligten lokalen Gremien Allianzen zu bilden.“
Anders als lokale Betriebsräte haben die grenzübergreifenden EBR zwar kein Verhandlungsmandat für die betroffenen Standorte, aber Informations- und Anhörungsrechte. „Auf diese Weise begleiten wir den Prozess“, erzählt Bernhard Müller-Klinke. Bedeutet: Wie im Fall Losenstein hinterfragt der SEBR die Unternehmensentscheidung, holt Sachverständige ins Boot, um grenzübergreifende Strategien zu entwickeln, bildet eine Achse mit den Gewerkschaften, bezieht die Politik ein und bringt lokale Betriebsräte und – im Idealfall – auch die CEOs der Länder an einen Tisch. „Wichtig ist uns dabei vor allem die Solidarität über die Ländergrenzen hinweg“, sagt Müller-Klinke. „Das funktioniert bislang sehr gut, wohl auch weil alle wissen, dass die vermeintlichen Gewinner oder Profiteure von Unternehmensentscheidungen beim nächsten Mal auf der Verliererseite stehen können.“
Wichtig ist uns dabei vor allem die Solidarität über die Ländergrenzen hinweg
Bernhard Müller-Klinke
Ob es noch Hoffnung für den Standort Losenstein gibt, stand zum Redaktionsschluss noch nicht fest. Der erste Anhörungstag, bei dem der SEBR seine Argumente für den Standorterhalt vorgebracht hat, fand Ende Januar statt. „Gemeinsam mit den lokalen Betriebsräten und den Gewerkschaften kämpfen wir um den Standort und jeden einzelnen Arbeitsplatz – bis zum Schluss“, sagt Bernhard Müller-Klinke. Und sollte die Schließung am Ende doch nicht zu vermeiden sein, unterstützt der SEBR auch bei Sozialplanverhandlungen mit wertvollen Tipps. So wie zuletzt im britischen Blackburn, wo die Abfindung für die betroffenen Kolleginnen und Kollegen dank der Informationen durch den SEBR mehr als doppelt so hoch ausfiel, als zunächst vom Unternehmen angeboten.
„Wir machen Solidarität erlebbar“
Mit Restrukturierungsmaßnahmen ist auch das Europa-Forum (EF) im Spezialchemie-Konzern Lanxess mit Hauptsitz in Köln immer wieder konfrontiert. Elf EF-Mitglieder vertreten rund 8000 Beschäftigte in acht europäischen Ländern. „Die Möglichkeiten der lokalen Betriebsräte variieren von Land zu Land und sind sehr unterschiedlich“, sagt Andreas Döring, Vorsitzender des EF, „je nach dort geltendem Recht.“ Umso wichtiger ist es ihm, dass im EF möglichst viele EU-Länder durch Kolleginnen und Kollegen vertreten sind. „Wir werfen unser gesamtes Know-how der Gewerkschaftsarbeit in die Waagschale, informieren uns gegenseitig, unterstützen uns und machen grenzüberschreitende Solidarität erlebbar“, sagt Döring.
Die Arbeitnehmervertreter des EF treffen sich regelmäßig, zweimal jährlich mit allen im Europa-Forum, dazu zweimal jährlich auf Ebene des kleineren Exekutiv-Komitees und „stehen auch so immer in engem Kontakt, wenn Themen konkret aufploppen.“ Dann nämlich ist Eile geboten, gilt es, keine Zeit zu verlieren. Dazu trägt im Lanxess-Konzern seit Kurzem auch eine Verbesserung bei, die das EF durchgesetzt hat. „Wir haben es geschafft, dass unser Gremium jetzt tatsächlich als Erstes in die Pläne der Chefetage eingeweiht wird, sogar noch vor dem Wirtschaftsausschuss“, berichtet Andreas Döring. „Das ist eine wichtige Errungenschaft, mit der wir künftig noch schneller grenzüberschreitend reagieren können.“

Foto: Marcus Schwetasch
Papier ist geduldig
Von solch einer Unternehmenspraxis kann Monika Förster nur träumen. Sie ist EBR-Vorsitzende beim Chemieunternehmen Ineos mit Hauptsitz in London. Rechtzeitige Informations- und Anhörungsrechte, die dem EBR laut Gesetz zustehen, werden regelmäßig missachtet – und das, obwohl es auch bei Ineos dazu eigens eine Vereinbarung gibt. Die garantiert dem EBR, frühzeitige Informationen zu bekommen, „so dass wir ausreichend Zeit haben, um darauf mit einem Statement zu reagieren und Einfluss nehmen können“. Eigentlich.
Denn Papier ist geduldig, die Praxis sieht trotz Vereinbarung im Ineos-Konzern anders aus. Die Restrukturierungspläne, die das Unternehmen mit den Werken in Gladbeck und im belgischen Antwerpen Ende November 2024 verkündet hat, haben Monika Förster und ihre EBR-Kolleginnen und -Kollegen per E-Mail nebst angehängter Pressemitteilung eine Viertelstunde nach der öffentlichen Bekanntmachung erfahren. Im Sommer 2025, so mussten sie der Verlautbarung entnehmen, will Ineos das Werk im nördlichen Ruhrgebiet vorübergehend schließen, die Phenol-Produktion soll von der Schwesteranlage in Belgien übernommen werden, die seit zwei Jahren nicht mehr in Betrieb ist, dann aber wieder hochgefahren werden soll. „Die Entscheidung wirft Fragen auf, die grenzübergreifend Konsequenzen haben und uns bislang nicht beantwortet wurden“, sagt Monika Förster. Zum Beispiel: Wie lange soll vorübergehend sein? Was passiert mit den Beschäftigten in Gladbeck? Gibt es in Antwerpen überhaupt genügend Kolleginnen und Kollegen für die Produktion? Und was bedeutet die Entscheidung für den ökologischen Fußabdruck des Unternehmens? Antworten darauf erhofft sich der EBR bei einem außerordentlichen Treffen mit der Unternehmensleitung im schweizerischen Rolle. „Das“, so hofft Monika Förster, „könnte vielleicht einen Neuanfang in der Zusammenarbeit zwischen EBR und Unternehmensführung markieren“. Sollte das nicht so kommen, schließt der EBR auch rechtliche Schritte nicht aus.