„Es braucht Politik aus einem Guss“
Wie kritisch die Lage der Industrie ist, was die nächste Bundesregierung unternehmen muss, warum wir eine völlige Neuausrichtung der Industrie- und Energiepolitik brauchen und was das mit Tarifbindung zu tun hat, erklärt Michael Vassiliadis im Interview mit Bernd Kupilas.

Michael Vassiliadis ist Vorsitzender der IGBCE.
Foto: Stefan Koch
Michael, was ist an dieser Bundestagswahl so wichtig?
Sie entscheidet, wo es mit diesem Land hingeht. Packen wir die großen Probleme jetzt entschieden an oder sehen wir dabei zu, wie unser Land die Grundlagen seines Wohlstands verliert, nämlich seine erfolgreiche Industrie? Diese Frage ist existenziell. Die Lage der Industrie ist kritisch wie seit Jahrzehnten nicht mehr, insbesondere für die energieintensiven Branchen. Der Bruch der Ampel-Koalition inmitten einer Multi-Krise war da nicht hilfreich. Schnelle und pragmatische Lösungen und Kompromisse wären angesagt gewesen. Aber das ist nun vergossene Milch. Wir brauchen jetzt nach der Wahl schnelle Entscheidungen – und zwar für die Modernisierung unserer Industrie. Auf ganzer Breite. In voller Kraft. Mit allergrößter Entschiedenheit.
Was genau verlangst du von der kommenden Regierung?
Wir brauchen zuerst ein schnell wirksames Konjunkturprogramm, um dann im zweiten Schritt Investitionen in die Transformation der Industrie voranzubringen. So modernisieren wir den Standort und finden zurück zu einem nachhaltigen Wachstums- und Fortschrittspfad. Die Aufgaben sind so umfassend, das finanziert man nicht mal eben aus dem laufenden Haushalt. Deshalb bedarf es einer Reform der Schuldenbremse, da werden die Parteien über Grenzen hinweg eine Allianz bilden müssen.
Milliarden für den Umbau, dann klappt’s auch mit dem Standort?
Jedenfalls sind Investitionen die Grundvoraussetzung, denn wir brauchen den Komplettumbau hin zur Energie-infrastruktur von morgen. Inklusive der Versorgung mit grünem Strom und Wasserstoff, beides gibt es nämlich noch nicht ausreichend. Und das Ganze zu tragfähigen Strompreisen. Es braucht endlich mehr Netze, es braucht Verfügbarkeit, es braucht eine Energie- und Industriepolitik aus einem Guss. Es braucht Pragmatismus bei der Erreichung der Klimaziele. Überhaupt brauchen wir eine Kehrtwende.
Wir haben als IGBCE unseren Beitrag geleistet und Mitgliedervorteile in mittlerweile mehreren Flächentarifverträgen und etlichen Haustarifen durchgesetzt.
Michael Vassiliadis
Wie meinst du das?
Politik und Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahrzehnten schleichend von der Industrie verabschiedet. Es fehlt vielerorts das Verständnis für industrielle Zusammenhänge und für die große Bedeutung der Industrie. Wir fordern: Richtet euren Blick endlich wieder auf das Wichtigste. Und das ist: Industrie, Industrie, Industrie. Dies hätte dann logische Folgen auch für andere Politikfelder. Sie bedingt zum Beispiel, dass wir für eine höhere Tarifbindung sorgen.
Das musst du uns erklären.
Wir brauchen in diesen herausfordernden Zeiten ein größtmögliches Maß an Sicherheit für die Menschen. Dazu gehört ein funktionierendes Sozialsystem, dazu gehören Sicherheit am Arbeitsplatz und Handlungsfähigkeit der Belegschaften im Betrieb. Letztere erlangt man durch einen hohen Grad an gewerkschaftlicher Organisation. Wir verlangen, dass die künftige Bundesregierung etwas für eine höhere Tarifbindung unternimmt, so wie es die EU-Kommission den Mitgliedsländern ja auch aufgetragen hat. Ideen, wie das geht, gibt es genug.
Ein Beispiel, bitte!
Wir haben als IGBCE unseren Beitrag geleistet und Mitgliedervorteile in mittlerweile mehreren Flächentarifverträgen und etlichen Haustarifen durchgesetzt. Das ist ein großer Erfolg und hat viele unorganisierte Kolleginnen und Kollegen davon überzeugt, Mitglied zu werden. Die nächste Regierung muss diese Mitgliedervorteile jetzt auch rechtlich absichern, damit sie noch weitere Verbreitung finden. Das ist nur eine von vielen weiteren möglichen Maßnahmen.
Gibt die IGBCE eine Wahlempfehlung?
Nein, als Einheitsgewerkschaft sind wir überparteilich. Das heißt aber nicht, dass wir unparteiisch sind, im Gegenteil: Wir ergreifen entschieden Partei, und zwar für die Interessen unserer Mitglieder. Das werden wir nach der Wahl während der Koalitionsverhandlungen erst recht tun. Deshalb ist unser Aktionstag am 15. März mit der IG Metall so wichtig. Gemeinsam wollen wir Zehntausende auf die Straße bringen, und ich bitte unsere Ehrenamtlichen in den Betrieben: Helft mit, dass dieser Tag ein Erfolg wird!