„Zwischen uns passt kein Blatt Papier“
Im September 2023 ließ der französische Reifenhersteller Michelin gegenüber seinen Betriebsräten die Bombe platzen: Zwei seiner deutschen Standorte machen ganz dicht, ein dritter wird geschrumpft. 1500 Arbeitsplätze fallen weg. Wie wichtig engagierte Betriebsräte mit einer starken IGBCE im Rücken gerade auch in dieser Situation sind – und warum das Beispiel Michelin als Blaupause für Betriebsratsarbeit bei drohenden Werksschließungen dienen kann, erzählt Kathryn Kortmann.
Gänzlich unvorbereitet traf sie die Hiobsbotschaft an jenem 7. September 2023 nicht. „Als Ende August eine Einladung für die Teilnahme am Wirtschaftsausschuss eintrudelte, um uns ,Mitteilung zu machen und die weitere Vorgehensweise zu erläutern‘“, erinnert sich Lukas Kopaczewski, „da haben wir schon geahnt, dass uns unangenehme Nachrichten erwarten.“ Doch mit diesem Ausmaß der Kahlschlagpläne hatten die Betriebsratsvorsitzenden der deutschen Michelin-Standorte nicht gerechnet. „Dass Karlsruhe auf der Abschussliste stand – und vielleicht auch Trier –, kam nicht unerwartet“, sagt Kopaczewski, Gesamtbetriebsratsvorsitzender und BR-Vorsitzender in Karlsruhe. „Aber doch nicht Homburg.“
Das, was das Unternehmen den Gremienvertretern an diesem Tag präsentierte, sah so aus: Schrittweise wird Michelin bis Mitte 2025 die Lkw-Reifenproduktion in Deutschland einstellen, die Werke in Karlsruhe und Trier komplett schließen und das Kundenkontaktzentrum von Karlsruhe nach Polen verlagern. In Homburg bleibt zwar die Runderneuerung der Lkw-Reifen erhalten, die Neureifenproduktion aber fällt ebenso wie die Halbfabrikatfertigung den Sparplänen zum Opfer.
Feingefühl für das richtige Tempo
Den anfänglichen Schock schüttelten die Betriebsräte schnell ab. Ihnen war klar: Jetzt ist Eile geboten, wenn „wir noch was retten und für unsere Leute das Bestmögliche aus der Situation herausholen wollen“, so Lukas Kopaczewski. Die Eile, die der französische Konzern mit Sitz in Clermont-Ferrand bei der Abwicklung der Standorte und Arbeitsplätze an den Tag legen wollte, bremsten die Betriebsräte dagegen aus. „Ende November wollte Michelin das Aus der Werke öffentlich verkünden“, sagt Jens Neubauer, BR-Vorsitzender für Vertrieb, Logistik und Zentralbereiche und Sprecher des Wirtschaftsausschusses. „Bis dahin sollte auch der Sozialplan stehen.“ Diesen Zahn haben die Betriebsräte der Unternehmensführung schnell gezogen. Zunächst standen andere Fragen auf der Agenda: Gibt es Möglichkeiten, die Werke doch noch zu erhalten und zumindest einen Teil der Arbeitsplätze zu retten? Verhandelt jedes Werk für sich oder soll eine gemeinsame Verhandlungskommission für alle Standorte gebildet werden?
Lasst euch nicht spalten, verhandelt alles zusammen und holt für alle Standorte nur einen Anwalt und einen Berater ins Boot.
Jens Neubauer
Gut beraten – von Anfang an
„In dieser Situation war es gut, die Gewerkschaft an unserer Seite zu haben“, sagt Lukas Kopaczewski. „Die IGBCE wusste in jeder Situation genau, welche Schritte als nächstes zu gehen waren, oder wie wir uns am besten positionieren.“ Zum Beispiel: „Lasst euch nicht spalten, verhandelt alles zusammen und holt für alle Standorte nur einen Anwalt und einen Berater ins Boot.“ Das, so Jens Neubauer, „hat sich als goldrichtig erwiesen“. Mit an Bord waren von Anfang an auch die Betriebsratsvorsitzenden, deren Standorte gar nicht von Schließungsplänen betroffen waren, wie das Pkw-Reifenwerk in Bad Kreuznach. „Das hat den Druck erhöht“, sagt Thorsten Bayer, stellvertretender BR-Vorsitzender in Bad Kreuznach, „weil wir die ganze Palette der Mitbestimmungsmöglichkeiten ausspielen konnten.“ Mehrarbeit etwa, die mitbestimmungspflichtig ist, hätte der Betriebsrat abgelehnt, wenn die Sozialplanverhandlungen für die von Schließung betroffenen Werke nicht „auf Kurs waren“.
Erste Priorität hatte jedoch der Standorterhalt. Deshalb erarbeiteten Betriebsräte und IGBCE – statt sofort in die Sozialplanverhandlungen einzusteigen – zunächst ein Alternativkonzept. Auf rund 100 Seiten haben sie dem Unternehmen Vorschläge – Bildung von Kompetenzzentren, höher spezialisierte Fertigungen oder Zusammenlegung von Werken – präsentiert, um den Kahlschlag zu verhindern. Vergeblich. Der Wille, die Standorte zu erhalten, war auf Arbeitgeberseite nicht vorhanden. Deshalb stand dann ab März 2024 die Aushandlung des Sozialplans für alle betroffenen Werke im Zentrum der Bemühungen. „Wir sind mit drei Zielen in diese Verhandlungen gegangen“, berichtet Jens Neubauer. „Alle gehen erhobenen Hauptes aus der Firma, weil alle fair behandelt werden. Der Scheck, also das Finanzielle, muss stimmen. Und wir schaffen drittens Perspektiven, ganz individuell und für jeden Einzelnen.“
Was dann folgte, waren harte Verhandlungen, die mit viel Weitsicht und insbesondere großer Transparenz untereinander und gegenüber allen Beschäftigten geführt wurden. So waren die Betriebsratsvorsitzenden nach Möglichkeit immer auch bei allen Betriebsversammlungen der anderen Standorte anwesend. „Dadurch kannten wir Sorgen und Wünsche in den Belegschaften und haben deren Stimmung unmittelbar mitbekommen“, sagt Jens Neubauer. „Außerdem hat das auch dem Arbeitgeber signalisiert, dass zwischen uns kein Blatt Papier passt.“
Wir wären sogar mit vielen Bussen nach Clermont-Ferrand in Frankreich gefahren.
Hans-Joachim Jordan
Busdemo nach Frankreich geplant
Große Geschlossenheit haben die Belegschaften auch bei den Kundgebungen in Homburg oder Karlsruhe demonstriert, mit denen sie öffentlich auf ihre Situation aufmerksam gemacht haben. „Wir wären sogar mit vielen Bussen nach Clermont-Ferrand in Frankreich gefahren“, berichtet Hans-Joachim Jordan, BR-Vorsitzender in Homburg. „Eigens gegründete Komitees haben die Fahrt bereits geplant und das auch nach außen kundgetan.“
Wohlwissend, dass Michelin großen Wert auf sein Image legt und alles tun würde, um möglichst wenig in die Schlagzeilen zu kommen. „Wenn es drauf angekommen wäre, wären auch wir aus Bad Kreuznach mitgefahren“, sagt Thorsten Bayer.
Ziele zu 99 Prozent erfüllt
So weit kam es nicht. Der Druck zeigte Wirkung, die Taktik, die IGBCE, Anwalt, Berater und Betriebsräte fuhren, ging auf – und nach knapp drei Monaten stand ein Sozialplan, der die drei angepeilten Ziele „zu 99 Prozent erfüllt hat“, sagt Gesamtbetriebsratsvorsitzender Kopaczewski. Weil sie die Budgetverhandlungen – anders als in den meisten Fällen üblich – vorangestellt haben, konnten betriebsbedingte Kündigungen vermieden werden. Stattdessen ist es mit einem gut ausgestatteten Freiwilligenprogramm möglich, zu steuern, wer wann geht, in die Transfergesellschaft wechselt oder für wen die sogenannte Rentenbrücke in Frage kommt. Mit der können sich in Homburg zum Beispiel ältere Kollegen aus der Runderneuerung zurückziehen und ihren Arbeitsplatz für jüngere Kollegen aus der Neureifenproduktion freimachen.
Der Sozialplan enthält neben einer Basisabfindung und Kinderzuschlägen auch einen Entgeltverzichtausgleich. Um ihre Standorte am Leben zu halten, hatten die Beschäftigten in der Vergangenheit auf Teile ihres Entgelts verzichtet, „die wir nun natürlich zurückverlangen“, sagt Hans-Joachim Jordan. Teil der Vereinbarung ist auch, dass alle Beschäftigten, egal wie lange sie im Unternehmen sind, Anspruch darauf haben, für zwölf Monate in die Transfergesellschaft zu wechseln. Die verschafft den Kolleginnen und Kollegen Orientierung auf dem Arbeitsmarkt und qualifiziert sie für neue Jobs. Auch ein Härtefallfonds gehört zum Gesamtpaket dazu.
„Das waren harte Wochen und Monate, die hinter uns liegen“, sagt Jens Neubauer. „Aber es hat sich gelohnt. Die Werke konnten wir zwar nicht retten, aber die Kraft der Solidarität hat dazu geführt, dass jede und jeder Einzelne eine Perspektive bekommt.“