Praxis

Februar | März 2024

Er wirbt sie alle

Gerade in Krisenzeiten braucht es starke Gewerkschaften. Das haben offenbar auch die Beschäftigten in den Betrieben verstanden. Allein im vergangenen Jahr schlossen sich rund 31.000 neue Mitglieder der IGBCE an. Von allein kommen sie allerdings auch in der Krise nicht. Wie funktioniert gute Mitgliedergewinnung? Welche Argumente ziehen? Kathryn Kortmann hat sich in drei Betrieben umgehört.

„Wenn du die Meinungsführer ins Boot holst, entwickelt sich eine eigene Dynamik.“ Jens Scheumer ist Betriebsrat bei Lanxess in Leverkusen.

Foto: Hans-Chistian Plambeck

Die ersten zwei Wochen im September sind für Betriebsrat Jens Scheumer enorm wichtig. Zwei Wochen, die richtungsweisend sind, sagt er. Sie entscheiden mit über die zukünftige Stärke und Durchsetzungsfähigkeit der IGBCE bei Lanxess in Leverkusen. Denn am 1. September starten rund 100 neue Auszubildende in den unterschiedlichsten Bereichen beim Feinchemikalienhersteller in ihre Berufslaufbahn. Läuft es für Jens Scheumer und seine Kolleginnen und Kollegen gut, treten die Neuen gleich innerhalb ihres ersten Ausbildungsmonats in die IGBCE ein. Meistens läuft es gut, sagt der 52-Jährige. „Zwischen 80 und 90 Prozent unserer Auszubildenden entscheiden sich für eine Mitgliedschaft. Einmal waren es sogar 96 Prozent.“

Ein Pauschalrezept, wie solche Ergebnisse zu erreichen sind, hat Scheumer, der im Lanxess-Betriebsrat für die Auszubildenden zuständig ist, nicht, aber viel Fingerspitzengefühl und jede Menge Erfahrung. Was sonst noch dafür notwendig ist, um diese Quoten zu erreichen? Ein Nachmittag! „In Gruppen von maximal 16 Auszubildenden verbringen wir innerhalb der ersten beiden Septemberwochen einen halben Tag mit unseren neuen Kolleginnen und Kollegen“, erzählt er, „getrennt nach Ausbildungsberufen, weil eine zielgruppenorientierte und vor allem persönliche Ansprache wichtig ist.“ Während dieses Nachmittags erfahren die jungen Leute viel Wissenswertes rund um die IGBCE. Für viele ist dies absolutes Neuland, von Gewerkschaften haben sie während ihrer vorherigen Schullaufbahn oft noch nie etwas gehört. Das ändert sich an diesen Septembernachmittagen: Sie erfahren zum Beispiel, was ihnen gesetzlich an Urlaub oder Ausbildungsvergütung zusteht und was sie tatsächlich bekommen, weil die Welt in gewerkschaftlich organisierten Betrieben mit Tarifbindung eine bessere ist. Auf Flipcharts zeichnen die Betriebsratsmitglieder und die IGBCE-Sekretärinnen und -Sekretäre Schritt für Schritt auf, welche Errungenschaften es nur gibt, weil die Gewerkschaft für viele verhandelt. Dass sie allein auf sich gestellt wenig erreichen können, wenn sie zum Beispiel versuchen, mit dem Chef ihre Ausbildungsvergütung zu verhandeln, haben die allermeisten nach der Veranstaltung verstanden. Kaum jemand geht an diesem Tag nach Hause, ohne den Mitgliedsantrag unterschrieben zu haben. Selbst die noch nicht gänzlich Überzeugten unterschreiben, weil Jens Scheumer ihnen verspricht, dass er ihre Anträge erst nach einer Bedenkzeit weiterleitet, sie bis dahin Zeit haben, „sich die Sache noch mal genau zu überlegen“. Gebrauch macht von diesem Angebot kaum jemand. Und wenn es doch mal schwer ist, eine Gruppe neuer Auszubildender für die Mitgliedschaft zu begeistern, ist es wichtig, die „Meinungsführer unter ihnen zu überzeugen“, sagt Scheumer.

Wenn es uns gelingt, sie ins Boot zu holen, entwickelt sich eine ganz eigene Dynamik und auch diese zunächst vielleicht eher ablehnende Gruppe ist am Ende meist doch fast vollständig mit von der Partie.

Jens Scheumer

Ohne Druck, aber hartnäckig

Eine feste Zielgruppe hat Jeanette Scheinfuss nicht im Blick, wenn sie Kolleginnen und Kollegen beim Kofferhersteller Rimowa in Köln auf eine Mitgliedschaft in der IGBCE anspricht. Ihr erster Zugang ist ein persönliches Gespräch. „Das ergibt sich meist dann, wenn sie persönlich betroffen sind und sie mit ihren Sorgen und Problemen zu mir kommen“, sagt die 48-jährige Betriebsrätin. Oft sind das Fälle, bei denen die Gewerkschaft helfen könnte. „Wenn es sich um akute Themen im Betrieb handelt, erkläre ich ihnen dann ganz konkret Schritt für Schritt, wie die Gewerkschaft an dieser Situation etwas verändern kann“, erzählt sie. „Und ich betone dabei immer wieder, dass wir nur gemeinsam bessere Bedingungen erreichen können, jede und jeder Einzelne dafür aber auch in Vorleistung gehen muss.“

Und auch bei eher individuellen Problemen im Beruf, die ihr berichtet werden, bringt Jeanette Scheinfuss die Vorteile einer Gewerkschaftsmitgliedschaft ins Spiel. Wenn es um arbeits- und sozialrechtliche Fragen geht, verweist sie auf den DGB-Rechtsschutz, dessen Beratung Mitglieder kostenlos in Anspruch nehmen können. „Ich zähle ihnen bei der Gelegenheit dann all die Benefits auf, die eine Mitgliedschaft beinhaltet ohne Druck auszuüben“, sagt Jeanette Scheinfuss. „Aber wenn ich spüre, dass eine gewisse Offenheit vorhanden ist, bleibe ich dran und scheue mich auch nicht, die Mitgliedskandidatinnen und -kandidaten mehrfach anzusprechen.“

Bei Begrüßungs­nachmittagen (Bild rechts) zeichnet er den Auszubildenden die vielen Vorteile einer IGBCE-Mitgliedschaft auf Flipcharts auf. Mit großem Erfolg!

Foto: Stephen Petrat

Vertrauen und ein kurzer Draht

Hartnäckigkeit bei der Überzeugungsarbeit zahlt sich am Ende oft für alle aus. Davon ist auch Hüseyin Burhan überzeugt. Für den stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden des Reifenherstellers Pirelli im südhessischen Breuberg gehört noch eine weitere Zutat zum Rezept für eine erfolgreiche Mitgliederwerbung: Vertrauen. Das hat sich der 47-Jährige über viele Jahre erarbeitet. Der seit sechs Jahren freigestellte Betriebsrat sucht den regelmäßigen Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen in den verschiedenen Bereichen. Zwei Tage hat er dafür jede Woche reserviert, an denen er durch die Produktionshallen läuft, um direkt zu erfahren, „wo der Schuh drückt und wo Hilfe nötig ist“. Solche Rundgänge sind nicht nur nützlich, um einen kurzen Draht zur Belegschaft zu haben, sondern auch, um neue Kolleginnen und Kollegen zu begrüßen und sie möglichst zeitnah von den vielen Vorteilen einer IGBCE-Mitgliedschaft zu überzeugen. Das gelingt ihm immer wieder, auch weil sich herumgesprochen hat, dass Hüseyin Burhan sich regelmäßig sehen lässt und seine Bemühungen um die Mitglieder nicht mit der Unterschrift unter den Aufnahmeantrag enden. Dass er im vergangenen Herbst noch erfolgreicher bei der Mitgliederwerbung war als sonst, führt Burhan noch auf einen anderen Umstand zurück: exklusive Boni nur für IGBCEler. Wer am Stichtag 1. November Mitglied war, darf sich auf 200 Euro Einmalzahlung des Arbeitgebers im April 2024 freuen. „Das war ein starkes Argument, das gezogen hat“, erklärt Burhan, „und Trittbrettfahrern den Wind aus den Segeln genommen hat.“

10 Tipps für die Mitgliederwerbung


  1. Früh übt sich: Jugend und Azubis sind besonders leicht abzuholen.
  2. Dranbleiben: Übung macht den Meister und Penetranz macht das Gewerkschaftsmitglied.
  3. Ärgernisse angehen: Bei eigener Betroffenheit besteht eine höhere Offenheit für den Gewerkschaftsbeitritt.
  4. Wer wünscht sich keine Familie, die einen auffängt? Die IGBCE-Familie ist für dich da und stärkt dir den Rücken.
  5. Ausführliche Gespräche statt Fließbandarbeit, um künftige Mitglieder in Ruhe über die IGBCE und ihre Arbeit zu informieren.
  6. Unterschrift ist Vertrauenssache: Kolleginnen und Kollegen ansprechen, die euch schon kennen. Internationales Klientel in ihrer Muttersprache ansprechen.
  7. Erfolgsaussichten abwägen: Zeit nur in Menschen investieren, die eine Offenheit mitbringen.
  8. Die sprachliche Ebene ist entscheidend: Ein Ausdruck muss her, den die Leute verstehen.
  9. Vergleiche mit den gesetzlichen Regelungen: Die tariflichen Vorteile sowie Mitgliedervorteile sind gute Werbung.
  10. Den Kontakt zum Betriebsrat beim Betriebseintritt nutzen und gleich für die IGBCE-Mitgliedschaft werben.