„Wir haben die Krise geschrumpft“
Michael Vassiliadis erklärt, warum Deutschland gut durch den Winter gekommen ist, wie die Beschäftigten in den Branchen der IGBCE dazu einen bedeutenden Beitrag geleistet haben und was jetzt passieren muss.
Michael, ist der befürchtete Krisenwinter ausgefallen?
Zumindest sind wir deutlich besser durch diesen Winter gekommen, als wir befürchten mussten. Wenn man bedenkt, welche Schreckensszenarien am Anfang dieses Winters standen, dann bleibt festzuhalten: Der Worst Case ist nicht eingetreten.
Wie ist uns das gelungen?
Der Grund liegt in einer Mischung aus glücklichen Umständen einerseits und entschiedenem Handeln andererseits. Das relativ milde Winterwetter hat uns geholfen, die Menschen haben in den eigenen vier Wänden Gas gespart, und die Bundesregierung hat erfolgreich neue Bezugsquellen erschlossen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ein Großteil der Einsparungen auf Minderproduktion und Minderbeschäftigung in den energieintensiven Industrien der IGBCE zurückgeht. Das hat unsere Kolleginnen und Kollegen zum Teil sehr direkt getroffen. Das alles hat dafür gesorgt, dass die Speicher am Ende dieses Winters noch sehr voll sind und sich die Lage an den Gasmärkten beruhigt hat. Auch die von uns mitentwickelten Energiepreisbremsen haben dazu beigetragen. Die Politik hat gut daran getan, sie umzusetzen und gleichzeitig beim Umbau der Gasversorgung Tempo zu machen. Man könnte auch sagen: Dadurch haben wir die Krise geschrumpft.
Wo genau gab es die richtigen Entscheidungen?
Ich nehme das Beispiel LNG-Terminal: In welchem Tempo es uns plötzlich gelingt, Dinge zu bewegen, ist erstaunlich. Das einfach auf Mega-Projekte wie den Ausbau der Erneuerbaren und Stromnetze oder den Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur zu extrapolieren, ist natürlich sportlich. Aber immerhin haben wir gezeigt: Wir können schnell, wenn wir wollen. Das sollte uns Ansporn sein. Auch die soziale Lage haben wir im Blick behalten. Wir als IGBCE haben unseren Beitrag geleistet, indem wir gute Tarifverträge geschlossen haben, die die Realeinkommen der Beschäftigten weitgehend schützen. Was in der Chemie angefangen hat, findet jetzt in weiteren Branchen seine Fortsetzung. Wir können zu Recht stolz sein auf unsere Tarifpolitik.
Du gibst also Entwarnung?
Nein. Noch immer bekommt Europa auf Wegen jenseits von NordStream russisches Gas. Was, wenn Putin auch diesen Hahn zudreht? Außerdem könnte die chinesische Gas-Nachfrage nach dem Abklingen der Corona-Pandemie wieder anziehen, was die Preise antreiben könnte. Hier gibt es also noch viel Unsicherheit. Außerdem bleibt die Inflation ein Problem für die Portemonnaies der Beschäftigten. Ja, die Inflationsrate wird vermutlich zurückgehen, aber sie bleibt doch zu hoch. Und in den Betrieben stehen wir vor gewaltigen Herausforderungen. Dort entscheidet sich nämlich gerade, ob Deutschland ein starkes Industrieland bleibt.