Interview

April | Mai 2023

„Wir haben die Krise geschrumpft“

Michael Vassiliadis erklärt, warum Deutschland gut durch den Winter gekommen ist, wie die Beschäftigten in den Branchen der IGBCE dazu einen bedeutenden Beitrag geleistet haben und was jetzt passieren muss.

Michael Vassiliadis ist Vorsitzender der IGBCE.

Foto: Stefan Koch

Michael, ist der befürchtete Krisenwinter ausgefallen?

Zumindest sind wir deutlich besser durch diesen Winter gekommen, als wir befürchten mussten. Wenn man bedenkt, welche Schreckensszenarien am Anfang dieses Winters standen, dann bleibt festzuhalten: Der Worst Case ist nicht eingetreten.

Wie ist uns das gelungen?

Der Grund liegt in einer Mischung aus glücklichen Umständen einerseits und entschiedenem Handeln andererseits. Das relativ milde Winterwetter hat uns geholfen, die Menschen haben in den eigenen vier Wänden Gas gespart, und die Bundesregierung hat erfolgreich neue Bezugsquellen erschlossen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ein Großteil der Einsparungen auf Minderproduktion und Minderbeschäftigung in den energieintensiven Industrien der IGBCE zurückgeht. Das hat unsere Kolleginnen und Kollegen zum Teil sehr direkt getroffen. Das alles hat dafür gesorgt, dass die Speicher am Ende dieses Winters noch sehr voll sind und sich die Lage an den Gasmärkten beruhigt hat. Auch die von uns mitentwickelten Energiepreisbremsen haben dazu beigetragen. Die Politik hat gut daran getan, sie umzusetzen und gleichzeitig beim Umbau der Gasversorgung Tempo zu machen. Man könnte auch sagen: Dadurch haben wir die Krise geschrumpft.

Wo genau gab es die richtigen Entscheidungen?

Ich nehme das Beispiel LNG-Terminal: In welchem Tempo es uns plötzlich gelingt, Dinge zu bewegen, ist erstaunlich. Das einfach auf Mega-Projekte wie den Ausbau der Erneuerbaren und Stromnetze oder den Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur zu extrapolieren, ist natürlich sportlich. Aber immerhin haben wir gezeigt: Wir können schnell, wenn wir wollen. Das sollte uns Ansporn sein. Auch die soziale Lage haben wir im Blick behalten. Wir als IGBCE haben unseren Beitrag geleistet, indem wir gute Tarifverträge geschlossen haben, die die Realeinkommen der Beschäftigten weitgehend schützen. Was in der Chemie angefangen hat, findet jetzt in weiteren Branchen seine Fortsetzung. Wir können zu Recht stolz sein auf unsere Tarifpolitik.

Du gibst also Entwarnung?

Nein. Noch immer bekommt Europa auf Wegen jenseits von NordStream russisches Gas. Was, wenn Putin auch diesen Hahn zudreht? Außerdem könnte die chinesische Gas-Nachfrage nach dem Abklingen der Corona-Pandemie wieder anziehen, was die Preise antreiben könnte. Hier gibt es also noch viel Unsicherheit. Außerdem bleibt die Inflation ein Problem für die Portemonnaies der Beschäftigten. Ja, die Inflationsrate wird vermutlich zurückgehen, aber sie bleibt doch zu hoch. Und in den Betrieben stehen wir vor gewaltigen Herausforderungen. Dort entscheidet sich nämlich gerade, ob Deutschland ein starkes Industrieland bleibt.

Wie meinst du das?

Viele Unternehmen unserer Branchen stehen gerade vor zentralen Investitionsentscheidungen: Umbauen müssen sie ihre Produktion angesichts der Transformation sowieso. Aber tun sie das noch in Deutschland oder gehen sie woanders hin? Und da ist der hohe Strompreis ein echtes Hindernis für den Standort. Deshalb haben wir ja im März eindrucksvoll für einen Industriestrompreis demonstriert. Dieser Aktionstag war ein Erfolg, den wir unseren Aktiven in den Betrieben verdanken. Dafür möchte ich ein herzliches Dankeschön sagen.

Mit einem Industriestrompreis wird dann alles gut?

Er ist Grundvoraussetzung für eine sozial und wirtschaftlich erfolgreiche Transformation unserer Industriegesellschaft in Richtung Klimaneutralität. Aber es braucht noch mehr: Ich plädiere insgesamt für eine deutlich aktivere Industriepolitik. Dabei bedarf es klarer Priorisierungen und Investitionsentscheidungen: Was wollen, was müssen wir in diesem Land produzieren? Und wie wollen wir es produzieren? Wenn wir eine grünere Produktion wollen, dann wird das Geld kosten. Das wird viele Unternehmen überfordern. Deshalb ist der Staat gefordert.