Interview

April | Mai 2023

„Es ist wie beim Fußball – wir brauchen die Ultras“

Foto: Werner Bachmeier

Zur Person:

Christian Hauber (56) ist seit 2005 Betriebsratsvorsitzender bei Basell Polyolefine. In der ­petrochemischen Fabrik im bayerischen Münchsmünster stellen rund 270 Beschäftigte hochdichtes Polyethylen her, das vor allem für Verpackungen und Folien gebraucht wird. Er ist auch Mitglied im Bezirksvorstand der IGBCE Kelheim-Zwiesel.

Christian Hauber ist Betriebsratsvorsitzender – und wirbt gekonnt und mit Plan gemeinsam mit seinem Team um neue Mitglieder für seine IGBCE. Um dabei Erfolg zu haben, sagt er, muss man Gewerkschaft nicht nur irgendwie gut finden – man muss für die Sache brennen wie ein Fußballfan. Worauf es beim Werben ankommt, welche Argumente er anwendet und wie er dank eines eigens entwickelten Verfahrens den Überblick behält, erklärt er im Interview mit unserer Autorin Kathryn Kortmann.

Christian, wieso habt ihr euch so viel Mühe gemacht, ein eigenes Verfahren für die Mitgliederwerbung zu entwickeln?

Wir sind seit 50 Jahren hier am Standort präsent. Und über viele Jahre war auch der Organisationsgrad stabil hoch. Ganz einfach, weil es für unsere Beschäftigten zur DNA dazugehörte, mit der Einstellung auch in die Gewerkschaft einzutreten. Das hat sich in den zurückliegenden Jahren verändert. Diese Selbstverständlichkeit ist heute nicht mehr da, die Skepsis überwiegt. Dazu kommt, dass der Euro in Krisenzeiten nicht mehr so locker sitzt. Das bekommen Kirchen und Gewerkschaften als erstes zu spüren. Die Austritte häufen sich, weil die Menschen hier zuerst ein Sparpotenzial sehen. Dabei sind Gewerkschaften gerade in Krisenzeiten enorm wichtig, um besser durch die schweren Zeiten zu kommen. Davon müssen wir die Kolleginnen und Kollegen überzeugen, immer und immer wieder. Zwischen Tür und Angel neue Mitglieder zu fischen, ist heute nicht mehr möglich.

Das bedeutet konkret …

… dass eine strukturierte Herangehensweise notwendig ist. Deshalb haben wir ein Monitoringkonzept entwickelt, das auf drei Säulen steht: Information und Kommunikation, Aufklärung und Überzeugung sowie Betreuung und Einbeziehung. Alle drei Säulen laufen systematisch ab. Wir arbeiten mit Wiedervorlagen und technischen Hilfsmitteln, schreiben zum Beispiel nach festgelegtem Schema und Zeitraum E-Mails an die Kolleginnen und Kollegen, haken nach und laden zum persönlichen Gespräch ein, immer wieder. Dabei gilt der Grundsatz: Wir überreden nicht, wir versuchen zu überzeugen.

60 bis 70 Prozent der ­heutigen Löhne und Gehälter resultieren aus tariflichen Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre.

Und wie gelingt euch das?

Wer neu in die Firma eintritt, muss nach der Einstellung am Betriebsratsbüro vorbei. Und an unserer Tür kommt keiner vorbei, ohne direkt reinzukommen oder einen festen ­Termin zu vereinbaren. Im Erstgespräch präsentieren wir harte Fakten, zählen auf, was die IGBCE in der Vergangenheit für die Beschäftigten erreicht hat, dass das Niveau der Einkommen in der Chemiebranche allein der Gewerkschaft und den von ihr verhandelten Tarifverträgen zu verdanken ist. Ohne Tarifverträge wäre die Welt eine andere. 60 bis 70 Prozent der ­heutigen Löhne und Gehälter resultieren aus tariflichen Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre. Eine riesige Solidaritätsleistung. Wenn ich das aufzähle, müssen mir die Leute in die Augen schauen. Wegducken und weiter Trittbrett fahren, fällt so bedeutend schwerer.

Dann unterschreiben alle gleich nach dem ersten Gespräch ihren IGBCE-Mitgliedsantrag?

So einfach ist das leider nicht. Müssen sie aber auch gar nicht. Wir wollen ja überzeugen und nicht überreden. Wir dokumentieren das Gespräch und legen den Kontakt in die Wiedervorlage, die uns automatisch daran erinnert, wann es wieder an der Zeit ist, aktiv zu werden. Wer sich nicht von alleine meldet, was die Regel ist, wird wieder angesprochen und kriegt so lange keine Ruhe, bis klar ist, wohin die Reise geht. Ziel ist es, dass die spätestens nach Ende der Probezeit in die Mitgliedschaft führt.

Lohnt sich der Aufwand?

Durchaus, wenn auch nicht über alle Bereiche und Gruppen gleich gut verteilt. Unsere Auszubildenden schließen sich uns zum Beispiel jedes Jahr zu 100 Prozent an. Schwieriger ist es dagegen auch bei uns, die außertariflich Beschäftigten von der IGBCE zu überzeugen. Sie profitieren ja nicht unmittelbar von den Tarifverträgen, obwohl sich auch ihre Gehälter letztlich an der Entwicklung der Tarifgehälter orientieren. Zum Monitoringsystem gehört aber auch, dass wir regelmäßig analysieren, bei wem sich der Aufwand lohnt. Hardcore-Verweigerer geben wir dann irgendwann auf und kümmern uns lieber um die Zauderer und Zweifler, bei denen noch ein Fünkchen Hoffnung besteht.

Und wie bringt ihr dieses Fünkchen zum Flackern?

Indem wir uns parallel dazu auch um unsere Werberinnen und Werber in den verschiedenen Bereichen kümmern. Wir statten sie mit guten Argumenten und einfachen Botschaften aus, die für eine Mitgliedschaft sprechen und motivieren sie. Auch bei ihnen greift das Monitoring mit Analyse und Wiedervorlage.

Aus bloßen Sympathisanten müssen Ultras werden, die sich zu 100 Prozent mit ihrem Verein oder in unserem Fall mit der IGBCE identifizieren und mit ihrer Begeisterung andere anstecken.

Wieso das? Sind sie nicht per se daran interessiert, neue Mitglieder zu gewinnen?

Schon, aber auch sie brauchen zuweilen einen Anschub für einen langen Atem. Das fällt umso leichter, je mehr sie selber für die Sache brennen. Dafür müssen wir immer wieder sorgen. Im Grunde ist es wie im Fußball. Aus bloßen Sympathisanten müssen Ultras werden, die sich zu 100 Prozent mit ihrem Verein oder in unserem Fall mit der IGBCE identifizieren und mit ihrer Begeisterung andere anstecken. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die Meinungsbildner und Schlüsselpersonen in den einzelnen Bereichen hinter uns stehen. Wenn die dabei sind, schließen sich die Kolleginnen und Kollegen aus den Abteilungen viel leichter an. Argumentieren trägt zwar zum Erfolg bei der Mitgliedergewinnung bei, entscheidender sind aber meist Faktoren wie Integrität, Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Vorbildcharakter.

Welche Erfahrungen habt ihr mit eurem Monitoringprozess zur Mitgliedergewinnung gemacht?

Sehr gute. In der aktuellen Krise hatten wir deutlich weniger mit Austritten zu kämpfen als zum Beispiel in den Krisenjahren 2008 und 2009. Mitgliederwerbung endet ja nicht mit der Unterschrift unter den Mitgliedsantrag. Dem 1000-Meter-Lauf muss sich ein Marathon anschließen. Bedeutet: Austritte verhindern und die Kolleginnen und Kollegen dauerhaft begeistern Deshalb zeigen wir in den Abteilungen durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit dauerhaft Gesicht, halten unsere gewerkschaftlichen Themen in der betrieblichen Diskussion am Köcheln und bemühen uns, immer ansprechbar zu sein. Hier greift die dritte Säule unseres Monitoringsystems – Betreuung und Einbeziehung.

Offenbar so erfolgreich, dass euer Konzept in der IGBCE Schule machen könnte.

In der Tat. Wir haben das Konzept zunächst im Bezirksvorstand Kelheim-Zwiesel vorgestellt, dann im Landesbezirk und bei einer Vertrauensleutekonferenz in Bayern. Inzwischen hat auch der Hauptvorstand in Hannover Interesse bekundet.