Interview

April | Mai 2024

»Es geht um unseren Wohlstand«

Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, den Betrieben droht ein nicht gekannter Fachkräftemangel. Was dagegen zu tun ist und wie sich die IGBCE engagiert, erklärt Alexander Bercht im Interview mit Bernd Kupilas.

Alexander Bercht ist Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand der IGBCE.

Foto: Stefan Koch

Alexander, eine hohe Zahl von Beschäftigten in den Betrieben unserer Branchen steht vor dem Ruhestand. Zugleich wächst von unten zu wenig nach. Was kommt da auf uns zu?

Ein Fachkräftemangel, der sich gewaschen hat, und ich fürchte: Viele Unternehmen haben den Ernst der Lage noch nicht begriffen. In den kommenden Jahren werden jährlich allein in der chemischen Industrie um die 25.000 Beschäftigten in Rente gehen. Zugleich wachsen dort aber nur um die 5000 neuen Fachkräfte durch übernommene Auszubildende nach. Die Boomer die geburtenstarken Jahrgänge aus der Mitte der 1960er-Jahre verabschieden sich nach und nach in den wohlverdienten Ruhestand. Damit fließt enorm viel Wissen aus den Betrieben ab, ohne dass die Unternehmen eine Ahnung hätten, wie sie dieses Wissen ersetzen wollen.

Was tun?

Die Unternehmen müssen deutlich mehr um den Nachwuchs kämpfen, als sie es bislang getan haben. Die Zeit, in denen sie sich die Rosinen herauspicken konnten, sind endgültig vorbei. Wir verlangen deutlich mehr Engagement in Sachen Ausbildung. Insgesamt bleiben zu viele junge Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss. Da versagen wir als Gesellschaft insgesamt.

Die Arbeitgeber argumentieren, dass es nicht mehr so viele junge Leute gibt …

Die Arbeitgeber müssen begreifen, dass sie in einer harten Konkurrenzsituation stehen, und sich etwas einfallen lassen. Einfach mit den Schultern zu zucken, hilft nicht. Arbeitgeber müssen Ausbildungsplätze nicht nur anbieten, sie müssen sie am Ende auch besetzen. Dazu müssen sie die richtigen jungen Leute finden, sie aber auch mehr denn je fördern und unterstützen.

Welchen Beitrag kann die IGBCE leisten?

Zukunftschancen für die Jugend zu erkämpfen, gehört zu unserer DNA als Gewerkschaft. Wir haben uns immer für den Nachwuchs eingesetzt und mit unseren Tarifverträgen erreicht, dass Unternehmen für die nötige Verjüngung ihrer Belegschaften sorgen, angefangen mit unserem Tarifvertrag ZAuBer (Zukunft durch Ausbildung und Berufseinstieg). Außerdem haben wir im vergangenen Jahr die Kampagne „Ohne Ausbildung keine Zukunft Fachkräfte fallen nicht vom Himmel“ gestartet. Wir lassen auch bei diesem Thema nicht locker und machen hier weiter Druck.

Mehr Auszubildende allein werden das Problem aber nicht komplett lösen.

Tatsächlich brauchen wir eine Strategie, die an verschiedenen Stellen ansetzt. Wir müssen zum Beispiel deutlich mehr tun, um Frauen aus der Teilzeitfalle zu holen. Da liegt unheimlich viel Potenzial brach. Überhaupt brauchen wir attraktive Arbeitszeitmodelle, die sich an den Lebensphasen orientieren. Junge Beschäftigte wollen Arbeit, Freizeit und Familie besser miteinander kombinieren können. Das müssen Arbeitgeber ihnen bieten können.

Gerade bei der Frage der Arbeitszeit laufen die Arbeitgeber Sturm. Sie argumentieren: Wenn wir die Arbeitszeit verkürzen, fehlen uns ja erst recht die Leute.

In der Arbeitszeitdebatte haben sich die Arbeitgeber verrannt. Nur wenn die Arbeitszeit attraktiv ist, werden sich Leute auch für unsere Branchen entscheiden. Wir sollten deshalb lieber gemeinsam diskutieren, wie wir die Voraussetzungen für attraktivere Arbeitszeitmodelle schaffen, statt fruchtlose Debatten über Dinge zu führen, die die Beschäftigten gar nicht wollen. Angesichts des Fachkräftemangels sitzen die Beschäftigten hier sowieso am längeren Hebel.

Kann Migration gegen den Fachkräftemangel helfen?

Wir brauchen nach seriösen Berechnungen im Jahr 400.000 Menschen, die in dieses Land einwandern und sich hier eine Existenz aufbauen nur so können wir unseren Wohlstand erhalten. Das wird aber nur gelingen, wenn wir hier endlich einen Kulturwandel hinbekommen und wir als Gesellschaft wirklich eine Einladung aussprechen und sich Menschen tatsächlich willkommen fühlen.