Interview

Dezember 2023 | Januar 2024

»Da ist noch Luft nach oben«

Oliver Heinrich erklärt im Interview mit Kathryn Kortmann, warum eine Studie zum mobilen Arbeiten wichtig ist und wie sich Betriebsratsarbeit durch neue Arbeitsformen verändert.

Oliver Heinrich ist Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand und oberster Tarifpolitiker der IGBCE.

Foto: Stefan Koch

Oliver, die Corona-Pandemie hat die Zunahme mobiler, ortsunabhängiger Arbeitsformen enorm beschleunigt. Warum ist dazu eine wissenschaftliche Studie notwendig?

Nicht nur die Pandemie hat dazu geführt, dass mobile Arbeit deutlich zugenommen hat. Gerade in den Branchen der chemisch-pharmazeutischen Industrie wirken sich Transformationsprozesse, etwa durch Digitalisierung sowie die demografische Entwicklung auf die Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen aus. Deshalb haben wir uns in der Tarifrunde 2022 mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) darauf verständigt, Arbeitszeit und Arbeitsort im täglichen Arbeitskontext neu zu betrachten und mithilfe der Studienergebnisse unseren tarifpolitischen Handlungsbedarf zu bestimmen.

Wie schaust du auf mobile Arbeit?

Arbeitgeber denken bei mobiler Arbeit oft zunächst an Produktivitätseffekte. Für uns sind darüber hinaus Themen wie Arbeitszeitgestaltung und soziale sowie finanzielle Auswirkungen auf die Beschäftigten wichtig. Wir sehen klar die Chancen, die sich für Beschäftigte aus mobiler Arbeit ergeben, etwa die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, oder dass sich Stress reduziert. Auch die Risiken sehen wir, etwa Entgrenzung oder auch fehlende ergonomische Gestaltung mobiler Arbeitsplätze. Arbeits- und Gesundheitsschutz sind keine Privatsache, da haben wir ein besonderes Auge drauf. Und die Frage, wie betriebliche Mitbestimmung auch in mobiler Arbeit sichergestellt werden kann, beschäftigt uns ebenfalls. Betriebsrätinnen und -räte (BR), Vertrauensleute und auch die hauptamtlichen Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretäre müssen Kontakt halten können zu unseren Kolleginnen und Kollegen in mobiler Arbeit.

Wie verändert sich BR-Arbeit durch die Zunahme mobiler Arbeitsformen?

Der Betriebsrat muss hybrid arbeitsfähig sein, in Präsenz vor Ort und zunehmend auch virtuell. Das ist eine neue Herausforderung. Die Studie zeigt, dass der Informationsfluss vom Betriebsrat zu den Beschäftigten durch die Einführung virtueller Medien gut funktioniert. Betriebsratsarbeit basiert aber in erster Linie auf Dialog. Persönliche Gespräche schaffen Vertrauen, nur so fließen Informationen. Sind die Kolleginnen und Kollegen seltener vor Ort, besteht die Gefahr, dass der Betriebsrat den Kontakt zu ihnen verliert. Dass die Gefahr real ist, zeigen die Ergebnisse auch. Welche virtuellen Medien sich besonders eignen, damit Betriebsrätinnen und -räte im mobilen Arbeiten in den direkten Dialog mit den Beschäftigten kommen, schauen wir uns aktuell genau an.

Wie gut funktioniert die virtuelle Zusammenarbeit im Betriebsrat selbst und mit der IGBCE?

Richtig gut läuft das schon unter den BR-Mitgliedern. Das zeigt, wie schnell die Gremien sich auf die veränderte Situation geringerer persönlicher Kontakte untereinander eingestellt haben, um arbeitsfähig zu sein. Fast die Hälfte bewertet den virtuellen Austausch mit der Gewerkschaft schon jetzt als gut, aber da ist sicher noch etwas Luft nach oben. Der Austausch zwischen Betriebsräten und ihrer IGBCE ist gerade in diesen Transformationszeiten immens wichtig: Betriebsräte sind mehr denn je gefragt, Rahmenbedingungen mitzugestalten.

Welcher Handlungsauftrag ergibt sich für die IGBCE aus der Studie?

In fast 70 Prozent der Betriebe haben Betriebsräte eine Betriebsvereinbarung zu mobiler Arbeit verhandelt. Aber es gibt noch jede Menge Regelungsbedarf, denn von den kleineren Betrieben mit maximal 250 Beschäftigten haben nur 47 Prozent eine Vereinbarung abgeschlossen. In mittleren Betrieben mit mehr als 250 bis maximal 500 Beschäftigten sind es immerhin zwei Drittel. Mobile Arbeit muss gesundheitsgerecht gestaltet sein – sowohl physisch als auch psychisch. Wir brauchen tarifliche und betriebliche Rahmenbedingungen, die es Beschäftigten ermöglichen, gesund mobil arbeiten zu können. Dazu gehört auch, dass mobile Arbeit erfasst wird, denn das ist häufig nicht der Fall. Überstunden fallen zu oft unter den Tisch, zum Teil aus gefühlter Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen, zum Teil, weil entsprechende Arbeitszeiterfassungssysteme fehlen. Auch hier sehe ich tarifpolitischen Handlungsbedarf.