Praxis

Dezember 2023 | Januar 2024

Auf Zack!

Die Lage ist komplex. Die Unternehmen in den Branchen der IGBCE entwickeln sich aktuell in verschiedene Richtungen. Während die einen Unternehmen über Fachkräftemangel klagen und ihre Aufträge mit dem vorhandenen Personal kaum stemmen können, müssen die anderen die Produktion drosseln, klagen über zu wenig Rentabilität und denken über Beschäftigungsabbau und ganze Standortschließungen nach. Lösungen gibt es für beide Szenarien. Wie Betriebsräte die Zukunft ihrer Unternehmen mitgestalten, beschreibt Kathryn Kortmann an zwei mit dem Betriebsrätepreis 2023 prämierten Beispielen.

André Bahn und Stefan Böck (l.) haben gut lachen. Ihr 29er-Gremium hat ein Bündel aus 39 Maßnahmen geschnürt, das den K+S-Standorten Zukunft beschert. Dafür gab es im November auch den Deutschen Betriebsrätepreis in Bronze.

Foto: Uwe Zucchi

Frühjahr 2021. Ein Damoklesschwert schwebt über dem Kali-Verbundwerk von K+S im Werratal mit Standorten in Thüringen und Hessen. Dieses Mal steht langfristig auch das Szenario einer vollständigen Schließung im Raum. 4500 Beschäftigte, darunter 300 Auszubildende, müssen erneut um ihre Arbeitsplätze bangen. Sorgen um ihre Jobs gehört für die Menschen im Kalibergbau in dieser Region beinahe zum Alltag. Das Wort Transformation mögen sie nicht, es löst Ängste aus. Denn was Transformation auch bedeuten kann, haben die Kolleginnen und Kollegen in der Kaliindustrie nach der deutschen Wiedervereinigung erfahren. Sinnbildlich dafür ist der Hungerstreik der Kali-Kumpel 1993 in Bischofferode. Fast alle ostdeutschen Kali-Werke wurden nach der Wende dicht gemacht. Übrig geblieben sind nur das Werk in Zielitz und eben die Teile des Werks, die in Thüringen liegen. Ruhe ist jedoch auch heute – mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung – nicht eingetreten. Immer wieder sorgen sogenannte Restrukturierungskonzepte für Verunsicherung der Beschäftigten am Werk Werra.

„Damit muss jetzt endlich Schluss sein“, beschloss der Betriebsrat um sein Führungsduo André Bahn und Stefan Böck in jenem Frühjahr. „Warum unser Schicksal anderen überlassen, die Experten unserer Arbeit sind schließlich wir“, sagt André Bahn, seit 2018 Betriebsratsvorsitzender des 29-köpfigen Gremiums bei K+S Minerals and Agriculture in Werra. „Wir haben zunächst im Betriebsrat mögliche Probleme definiert und nach Lösungen gesucht“, erzählt Stefan Böck, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, „und haben dann die gesamte Belegschaft aufgefordert, ihre Ideen einzureichen.“ Dass alle beteiligt sind und sich nicht übergangen fühlen, „ist wichtig“, erklärt André Bahn, „für die Kolleginnen und Kollegen selbst, damit sie sich mit dem Projekt und den einzelnen Maßnahmen identifizieren, und auch um das Projekt gegenüber der Führungsetage zu vertreten.“

Warum unser Schicksal anderen überlassen, die Experten unserer Arbeit sind schließlich wir.

André Bahn

Die Initiative stieß auf Begeisterung. Die Ideen flatterten nur so herein. In gerade einmal sechs Wochen stellte der Betriebsrat ein Paket aus 39 Maßnahmen zur „Zukunftssicherung Werk Werra (ZuSiWe)“ zusammen, fasste das auf 79 Folien zusammen, präsentierte die in der K+S-Unternehmenszentrale in Kassel – und überzeugte. „Nach nur 48 Stunden kamen alle Maßnahmen bewertet und mit Anmerkungen versehen zurück“, sagt Stefan Böck. Kurz darauf setzte der Vorstand das „Transformationsprojekt Werra 2060“ in Gang, um die Umsetzung aller Maßnahmen zu beraten, die zu einer wirtschaftlich effizienteren und ökologisch nachhaltigeren Kaliförderung am Werk Werra führen sollen.

Darunter sind Vorschläge zu einem trockenen elektrostatischen Aufbereitungsverfahren, das salzhaltiges Abwasser vermeidet, oder der Einsatz einer Abbautechnik, die dazu beiträgt, deutlich mehr Rohstoffe zu befördern. „Das Verfahren ermöglicht es, unter Tage wirtschaftlicher abzubauen. An die Stützpfeiler konnten wir vorher nie ran“, erklärt André Bahn. Die sind natürlich auch in Zukunft nötig, damit das Bergwerk stabil ist. Aber mit der neuen Technik kann der Rohstoff aus ihnen gewonnen und sie gleichzeitig mit Produktionsrückständen wieder aufgefüllt werden. Ein Verfahren, „das zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: ein höheres Abbauvolumen bereits erkundeter Abbaufelder unter Tage und ein geringeres Haldenwachstum über Tage“, erklärt Stefan Böck.

Das Beispiel Werk Werra macht bei K+S Schule. Über die gesamte K+S-Gruppe sollen jetzt Transformationsprojekte an den Standorten ausgerollt werden. Wenn alles nach Plan läuft, soll die Transformation am Werk Werra 2027 abgeschlossen sein, „übrigens die erste richtige Transformation in Deutschland“, betont André Bahn, „die einen vollständigen Umbau industrieller Prozesse bedeutet, die Beschäftigten für die neuen Anforderungen qualifiziert und alle in die Zukunft mitnimmt.“ Der Betriebsrat hat sie nicht nur maßgeblich mitgestaltet, sondern auch dafür gesorgt, dass Transformation am hessisch-thüringischen Werk Werra jetzt nicht mehr so negativ besetzt ist.

Foto: Deutscher Betriebsrätetag

Mit dem Fünf-Schicht-Modell hat der Betriebsrat von Essity Neuss nicht nur für attraktivere Arbeitsbedingungen gesorgt, sondern auch die Jury beim Deutschen Betriebsrätepreis überzeugt. Das Projekt wurde mit dem Sonderpreis „Gute Schichtarbeit“ ausgezeichnet.

Flexibel auf Schicht

Ortswechsel. Auch bei Essity im nordrhein-westfälischen Neuss ist Transformation ein großes Thema. Handelsmarke statt Marke sollten die Beschäftigten am Standort Neuss künftig produzieren, so hatte es der Hersteller von Hygieneprodukten vor knapp zwei Jahren beschlossen. Und weil die Marge bei den No-Name-Produkten anders als beim Tempo-Taschentuch über das Volumen gemacht wird, wollte das Unternehmen die Produktion auf Durchfahrbetrieb umstellen – sieben Tage rund um die Uhr an 365 Tagen. Für den elfköpfigen Betriebsrat war sofort klar: Durchfahrbetrieb ist mit unserer Belegschaft im bisherigen Vier-Schichtsystem auf Basis der 35-Stunden-Woche nicht zu schaffen.

„Die Ausgangslage für die Pläne des Konzerns war denkbar ungünstig“, sagt Betriebsratsvorsitzender Ralf Kruska und zählt auf, was gegen den Durchfahrbetrieb im alten Schicht-Modell sprach: eine alternde Belegschaft, hohe Krankenstände, viele Leistungsgewandelte und junge Kolleginnen und Kollegen, die nach der Ausbildung wegen des unattraktiven Schichtdienstes weggingen, um ihr Geld in Betrieben mit besseren Arbeitszeiten zu verdienen.

Für den Betriebsrat war der Zeitpunkt gekommen, das unliebsame Vier-Schicht-System loszuwerden und mit den Beschäftigten über das flexiblere Fünf-Schicht-Modell zu diskutieren. „Ohne Zustimmung der Belegschaft hätten wir das nicht durchgesetzt“, meint Kruska, „ein neues Schichtmodell greift schließlich auch in das Privatleben ein.“ Die Belegschaft ging mit und auch der Arbeitgeber ließ sich überzeugen. Seit 1. Januar 2023 arbeiten die Kolleginnen und Kollegen jetzt im Fünf-Schicht-Modell auf Basis der 32,5 Stunden-Woche, bekommen aber weiterhin 35 Stunden bezahlt. „Mit diesem Modell ist jetzt auch Teilzeit im Schichtdienst möglich und unsere leistungsgewandelten Kolleginnen und Kollegen werden viel besser aufgefangen“, erzählt Kruska.

Über die Vier-Tage-Woche wird gerade viel diskutiert, wir sind mit unserer 4,2-Tage-Woche schon ganz nah dran.

Ralf Kruska

Die Umstellung hat sich gelohnt. Die Zufriedenheit ist so hoch wie lange nicht mehr. Die Rückmeldungen sind „fantastisch“. Und: Der Krankenstand hat sich bereits nach wenigen Monaten um fünf Prozentpunkte reduziert, das Angebot an Ausbildungsplätzen stieg von acht auf zehn alle konnten auch besetzt werden und rund 50 neue Kolleginnen und Kollegen schlossen sich dem Unternehmen an. „Mit attraktiven Arbeitszeiten können wir in Zeiten von Fachkräftemangel punkten“, sagt Ralf Kruska. „Über die Vier-Tage-Woche wird gerade viel diskutiert, wir sind mit unserer 4,2-Tage-Woche schon ganz nah dran."