Interview

Oktober | November 2023

»... und dann rappelt das richtig im Karton«

Foto: Andreas Franke

Zur Person:

Holger Nieden
(57, links im Bild)
ist seit 1990 Gewerkschaftssekretär bei der IGBCE. Er ist zuständig für die bundesweite Energiewirtschaft und Verhandlungsführer der IGBCE in der LEAG-Tarifrunde.

Lars Katzmarek
(31, rechts im Bild)
ist Vorsitzender des Vertrauenskörpers bei der LEAG, Mitglied der Tarifkommission und Betriebsrat im Energieunternehmen, das in der Lausitz ansässig ist.

Ohne Arbeitskampf kein Tarif: Das gilt zunehmend gerade für die Tarifrunden in Unternehmen. Aber wie schafft man es, dass die Belegschaft für die Forderungen der Gewerkschaft vors Tor zieht? Lars Katzmarek, Vorsitzender des Vertrauenskörpers bei der LEAG in der Lausitz, und Holger Nieden, Verhandlungsführer der IGBCE für die Energiewirtschaft, berichten im Gespräch mit unserer Autorin Kathryn Kortmann von ihren Erfahrungen.

Lars, Holger, ihr befindet euch gerade in der Tarifrunde bei der LEAG. Gleich zur ersten Verhandlung seid ihr Mitte August mit mehr als 70 Kolleginnen und Kollegen erschienen. Das ist zu diesem Zeitpunkt eher ungewöhnlich …

Lars: Das war für uns auch eine neue Erfahrung. Aber wir hatten das Gefühl, in dieser Tarifrunde gleich von Anfang an mal ganz klar ein Zeichen setzen zu müssen. Schließlich sind wir – inflationsbedingt – mit der höchsten Forderung, die wir jemals aufgestellt haben, in die Verhandlung gegangen. Deshalb war es uns wichtig, unserem Arbeitgeber sofort zu signalisieren, dass die ganze Mannschaft hinter dieser Forderung steht und jetzt wirklich nicht die Zeit für überflüssiges Taktieren ist.

Häufig legen Arbeitgeber in der ersten Runde noch kein Angebot auf den Tisch und beklagen eher, wie schwierig die Lage gerade ist. Hat euer Empfang Wirkung gezeigt?

Holger: Erste Zahlen haben sie uns tatsächlich unterbreitet, die aber von einem echten Angebot, das den Namen verdient, weit entfernt waren. Alles in allem haben sie eine peinliche Vorstellung geboten – und das bei einem wirtschaftlich guten Ergebnis. Da blieb uns nichts anderes übrig, als gleich in der ersten Tarifverhandlung die Vorbereitung von Arbeitskampfmaßnahmen anzukündigen, wenn es von Arbeitgeberseite in der nächsten Runde keine ordentliche Bewegung gibt.

Lars: Dass wir schon zur ersten Verhandlung mit mehr als 70 Kolleginnen und Kollegen angerückt sind, hat die Ernsthaftigkeit unserer Ankündigung sicher noch mal unterstrichen. In die zweite Runde gehen die Arbeitgeber jetzt mit dem Gefühl, dass wir alle in den Warnstreik gehen, wenn das nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen.

Um diese Prozesse in Gang zu setzen, müssen wir sie mit Fakten versorgen.

Holger Nieden

Alle?

Lars: Die Belegschaft steht hinter uns. Wenn wir in den Warnstreik gehen, dann gehen die Kolleginnen und Kollegen an allen Standorten vors Tor …

Holger: … und dann rappelt das richtig im Karton.

Wie gelingt es euch, die Belegschaft zu motivieren, damit sie zum Arbeitskampf vors Tor zieht?

Holger: Der Organisationsgrad spielt dabei natürlich eine wichtige Rolle. Je mehr Beschäftigte in der IGBCE organisiert sind, umso leichter ist es, die Kolleginnen und Kollegen auf die Straße zu bringen. Der Orgagrad bei der LEAG ist hoch und die gewerkschaftlichen Strukturen sind mit den Vertrauensleuten gut ausgebaut. Das spielt uns natürlich in die Karten.

Lars: Motiviert werden muss bei uns niemand. Als ich die Idee in den Raum geworfen habe, dem Arbeitgeber gleich zur ersten Verhandlungsrunde mit einem Besuch am Verhandlungslokal Dampf zu machen, war für viele Kolle­ginnen und Kollegen sofort klar: ‚Ich bin dabei‘. Und wenn die IGBCE zum Warnstreik aufruft, ist das erst recht ein Selbstläufer. Aus gutem Grund. Wir ziehen die Tarifrunde von Anfang an von unten auf. Beteiligung ist hier das Zauberwort. Die Forderung, mit der wir am Ende in die Verhandlungen gehen, ist zu 100 Prozent die Forderung der Kolleginnen und Kollegen.

Wie setzt ihr das Schritt für Schritt um?

Lars: Über unsere 58 Vertrauensleute starten wir mit einer Abfrage in der Belegschaft, diskutieren dann im Vertrauenskörper und anschließend in der Tarifkommission (Tako), was eine realistische Forderung sein könnte. Die Vertrauensleute kommunizieren das dann wiederum in die Belegschaft und spiegeln die Resonanz zurück zur Tako und kommen so am Ende in der Tako zu einer Forderung. Transparenz, die wir durch offene Kommunikation erreichen, ist dabei ganz entscheidend.

Holger: Genauso wichtig ist die Betroffenheit der Kolleginnen und Kollegen. Sie müssen selber in der Lage sein, ihr Bedürfnis nach einer Lohnerhöhung zu formulieren. Um diese Prozesse in Gang zu setzen, müssen wir sie mit Fakten versorgen.

Zum Beispiel?

Holger: Während die Beschäftigten inflationsbedingt für Lebensmittel oder Energie tief in die Tasche greifen müssen, fährt das Unternehmen fette Gewinne ein. Das schürt Betroffenheit bei den Kolleginnen und Kollegen. Sie kommen zu dem Schluss, dass diejenigen, die diese Gewinne erwirtschaften, auch daran beteiligt werden müssen. Und das führt letztlich nicht nur zur Forderung, sondern auch zur Bereitschaft, diese auch aktiv durchzuboxen.

Lars: Dazu braucht es dann noch Leute, die vorangehen, die klarmachen: ‚Ihr braucht keine Repressalien zu befürchten, wenn ihr vors Tor geht‘. Das geht nur über die menschliche Schiene. Dazu gehört auch, notfalls noch mal durch die Abteilungen zu tingeln und die Leute daran zu erinnern, dass es hier ganz konkret um ihre Forderung geht. Das funktioniert auch nur dann, wenn der Draht zu den Kolleginnen und Kollegen bereits da und gefestigt ist und nicht erst in der Tarifrunde geknüpft wird. Die Belegschaft muss schon vor der Tarifrunde als Team funktionieren und jederzeit medial mitgenommen werden.

Wenn die Arbeitgeber sich nicht ernsthaft bewegen, werden wir für Bewegung sorgen.

Lars Katzmarek

Mit welchen Medien haltet ihr die Belegschaft auf dem Laufenden?

Lars: Klassische Nummern wie E-Mail-Verteiler funktionieren nicht mehr. Social Media dagegen gewinnt an Bedeutung. Kleine Videos über unsere Social Media-Kanäle, die die Forderung erklären, erzielen eine hohe Reichweite. Sehr hilfreich sind auch Messenger-Dienste wie Whatsapp-Gruppen, über die wir unsere Nachrichten streuen. Diese Infos kommen bei den Leuten direkt an, werden geteilt und sorgen so für jede Menge Aufmerksamkeit.

Wie unterstützt die IGBCE die ehrenamtlichen Funktionärinnen und Funktionäre dabei?

Holger: Wichtig ist es, Unsicherheiten in der betrieblichen Praxis von vornherein zu vermeiden. Deshalb stehen wir – nicht nur während der Tarifrunden – in sehr engem Kontakt mit den Vertrauensleuten. Die IGBCE stattet sie mit dem notwendigen Rüstzeug aus, das sie während der Tarifrunden brauchen. Wir bieten zum Beispiel sogenannte Tarifführerscheine an. In diesen Seminaren vermitteln wir die tarifrechtlichen Grundlagen, erklären, wie eine Tarifrunde abläuft und welche Rechte Beschäftigte haben. Oder wir führen Streikschulungen für Streikleitungen durch.

Dann seid ihr für die aktuelle Tarifrunde also bestens vorbereitet?

Lars: Auf jeden Fall. Die Vorbereitungen für konkrete Arbeitskampfmaßnahmen laufen auf Hochtouren. Wenn die Arbeitgeber sich nicht ernsthaft bewegen, werden wir für Bewegung sorgen. 1000 Leute vorm Tor statt am Arbeitsplatz werden ihre Wirkung nicht verfehlen …

Holger: … und daran kommt auch der Arbeitgeber nicht vorbei. Zumal Arbeitskämpfe bei der LEAG zwar durchaus Tradition haben, aber eben auch nicht inflationär, sondern zielgerichtet eingesetzt werden. Beim letzten Mal haben wir, weil es für die Arbeitsplätze und die Standorte wichtig war, eine Nullrunde hingenommen, ohne vors Tor zu gehen. Jetzt geht es dem Unternehmen wirtschaftlich gut. Da erwarten die Beschäftigten ihrerseits ein Entgegenkommen des Arbeitgebers, sonst geht es vors Tor. Und ich wiederhole mich gern: Dann rappelt es …