Interview

Oktober | November 2023

»Ein Zeichen des Respekts«

Warum Mitgliedervorteile eine gute Sache sind, welchen Beitrag Tarifpolitik zum Wachstum unserer Gewerkschaft leisten muss, und was man von der IGBCE in den kommenden Tarifrunden erwarten kann, erklärt Oliver Heinrich im Interview mit Lars Ruzic.

Oliver Heinrich ist seit wenigen Wochen der neue Tarifvorstand der IGBCE.

Foto: Stefan Koch

Oliver, du bist seit September der neue Tarifvorstand der IGBCE und übernimmst die Aufgabe in Zeiten extrem hoher Inflation. Ist das eher eine Bürde oder eine Herausforderung für dich?

Auf jeden Fall eine motivierende Herausforderung. Wir werden ausloten müssen, welche Spielräume angesichts der wirtschaftlichen Situation in unseren Branchen auf der Arbeitgeberseite vorhanden sind. Gleichzeitig werden wir nicht nachlassen, die Situation unserer Kolleginnen und Kollegen zu verbessern, denen die Inflation Löcher ins Portemonnaie brennt. Gleichzeitig leiden sie unter wachsender Arbeitsverdichtung, und vielen lässt die Arbeit kaum noch Raum für Familie oder Erholung. Wir stehen vor spannenden Tarifrunden.

Was macht diese außergewöhnliche Situation mit der Sozialpartnerschaft?

Wir werden sie weiterentwickeln müssen. Nur wenn beide Verhandlungspartner stark sind, können sie gute Kompromisse erzielen. Das erreicht man nur mit einer hohen Tarifbindung, und die gibt’s nur mit ausreichender Mitgliederbindung. In der Chemie-Industrie haben wir uns in der vergangenen Tarifrunde darauf geeinigt, Ansatzpunkte zur Steigerung der Mitgliederzahlen auf beiden Seiten zu erarbeiten. Die Gespräche darüber waren bislang ernüchternd. Mein Eindruck ist, dass die Arbeitgeber in der Frage kaum Bewegungsspielraum haben. Für uns ist klar: Tarifpolitik muss einen zentralen Beitrag zum Mitgliederwachstum leisten. Das müssen auch die Arbeitgeber verstehen.

Ein Punkt dabei sind Tarifvorteile für Gewerkschaftsmitglieder. Das hat die IGBCE schon in diversen Verträgen vereinbart. Muss man das ausweiten?

Mitgliedervorteile sind wichtig und richtig, wir müssen sie weiter vorantreiben. Ein Bonus ist ein Zeichen des Respekts. Die Arbeitgeberseite muss anerkennen, dass Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter mit ihrem Mitgliedsbeitrag entscheidenden Anteil dafür tragen, dass wir überhaupt Tarifverträge und Sozialpartnerschaft haben. Wenn das nicht verstanden wird, werden wir in den Tarifrunden Nachhilfe geben. Für uns als IGBCE ist ein Bonus vor allem ein Instrument der Mitgliederbindung, kein Allheilmittel. Wenn wir einen neuen Bonus ausgehandelt haben, wird danach trotzdem kein Vertrauenskörper oder Betriebsrat mit der Schubkarre durch den Betrieb laufen, um Massen an Mitgliedsanträgen einzusammeln.

Mitgliederstärke wird ein zentrales Aufgabenfeld für deinen Vorstandsbereich neben der Tarifpolitik. Worum geht es dabei genau?

Wir haben ja erste gute Erfahrungen mit Mitgliedermarketing in Tarifrunden gemacht. Das werden wir ausbauen. Ich bin überzeugt davon, dass jede neue Tarifrunde Chancen für Mitgliederwachstum eröffnen kann. Wir wissen aus Befragungen, dass für die Beschäftigten Tarifverträge, aber auch Tarifauseinandersetzungen, zentrale Gründe sind, sich in einer Gewerkschaft zu engagieren. Das künftig noch stärker in den Vordergrund zu stellen, ist eine Aufgabe des neuen Vorstandsbereichs.

Welche Rolle spielen dabei Betriebsräte und Vertrauensleute?

Es sind unsere Ehrenamtlichen, die im Betrieb den Vertrauensvorschuss und die Reputation mitbringen, um Beschäftigte zu organisieren. Mich macht nachdenklich, dass wir in der IGBCE zwar 40.000 engagierte Kolleginnen und Kollegen haben, die eine Funktion bekleiden, wirklich in der Mitgliederwerbung aktiv sind davon jedoch sehr wenige. Woran das liegt, will ich mir in den kommenden Monaten genauer ansehen.

Deine erste große Tarifrunde werden die Verhandlungen für die Chemie im kommenden Jahr sein. Was kann man da erwarten?

Das werden wir mit den Mitgliedern diskutieren. Mein Eindruck ist, dass die Erwartungen stark auseinandergehen. Da sind auf der einen Seite diejenigen, die stark unter der hohen Inflation leiden. Andere ächzen unter großen Belastungen im Arbeitsalltag oder beim Spagat zwischen Familie und Beruf. Das können sich die Unternehmen bei wachsendem Fachkräftemangel nicht länger leisten. Es braucht attraktivere Rahmenbedingungen für alle, die nicht nur leben wollen, um zu arbeiten, sondern arbeiten, um zu leben. Mit der 37,5-Stunden-Woche wird man das nicht mehr hinkriegen. Da erwarte ich ein Umdenken. Zur Not werden wir dafür sorgen.