Praxis

Oktober | November 2023

Die Kraft des guten Gesprächs

Um Konflikte mit dem Arbeitgeber führen zu können, brauchen Betriebsräte und IGBCE die Rückendeckung der Belegschaft. Aber wie bekommt man das hin? Wie erhöht man den Organisationsgrad im Betrieb und macht die Belegschaft kampffähig? Unser Autor Andreas Schulte stellt drei Beispiele vor.

Fotos: Julia Knop

Das Ziel ist klar: Ein Tarifvertrag soll endlich her für die Beschäftigten von Euroimmun. Die Einigung wäre der nächste Meilenstein für die Mitbestimmung beim Hersteller von Labordiagnostika mit Hauptsitz in Lübeck. Denn bis 2017 war Euroimmun inhabergeführt, dann übernahm der US-Konzern Perkin Elmer. „Betriebliche Mitbestimmung gab es lange nicht“, sagt Christian Wilde, Vorsitzender des Betriebsrats Nord bei Euroimmun und Vertrauensmann. Begriffe wie Gewerkschaft oder Betriebsrat seien lange nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen worden, sagt der im Jahr 2022 gewählte Arbeitnehmervertreter. Mittlerweile sei man aber auf „einer funktionierenden Arbeitsebene mit dem Arbeitgeber angekommen“.

Seit Februar 2023 organisieren sich die Beschäftigten auch verstärkt in der Gewerkschaft. Doch der Weg zum Tarifvertrag ist noch weit. Die Vertrauensleute der IGBCE bei Euroimmun trommeln daher laut für noch mehr Unterstützung. Täglich sprechen die Arbeitnehmervertreter mit vielen der über 2.200 Beschäftigten an den vier norddeutschen Standorten. Genaue Zahlen zum Organisationsgrad verrät Wilde nicht. Nur so viel: In sechs Monaten habe man die Mitgliederzahl verfünffacht. „Wir streben weiter exponentielles Wachstum an“, sagt er. Das große Ziel: Im nächsten Jahr sollen die Reihen im Betrieb so weit geschlossen sein, dass die Gewerkschaft mit kräftiger Rückendeckung der Belegschaft Tarifverhandlungen führen kann.

Wichtig ist ständige Präsenz.

Christian Wilde
Vorsitzender des Betriebsrats Nord bei Euroimmun in Lübeck.

Mit dieser Offensive steht Euroimmun nicht alleine da. An vielen Orten in Deutschland bringen Betriebsräte und Vertrauensleute Belegschaften mit Unterstützung der IGBCE derzeit verstärkt hinter sich. So sollen die Arbeitnehmervertretungen für Konflikte künftig noch besser aufgestellt sein als bislang – und gemeinsam mit der IGBCE zum Beispiel eine Tarifbindung oder einen eigenen Haustarifvertrag durchsetzen. Es ist vor allem das gute Gespräch, mit dem im Vorfeld Vertrauensleute ihre Kolleginnen und Kollegen vom Eintritt in die Gewerkschaft überzeugen.

„Im persönlichen Gespräch erreicht man sie am besten“, sagt Wilde. „Dann hört man auch am ehesten die Sorgen und Erwartungen.“ Vor allem beim Gehalt drückt die Beschäftigten bei Euroimmun der Schuh. Und weil drei Jahrzehnte lange Mitbestimmung bei Euroimmun keine Rolle spielte, „müssen wir stellenweise noch viel Aufklärungsarbeit leisten“, sagt Wilde. „Was kann der Betriebsrat bewegen, was die Gewerkschaft? Solche Informationsdefizite bekämpfen wir täglich.“

Wichtig sei eine ständige Präsenz der Arbeitnehmervertretungen, weiß Wilde. „Als Betriebsrat kommunizieren wir in der Regel häufiger und transparenter als der Arbeitgeber.“ Auch die IGBCE ist regelmäßig vor Ort – mit Ständen auf den Werksgeländen, bei Betriebsversammlungen oder bei den Beschäftigten in den Abteilungen. Überzeugen ließen sich Kolleginnen und Kollegen durchaus, sagt Wilde. Sind sie dann Mitglied, werben sie ihrerseits für den Eintritt in die IGBCE. „Da spüren wir eine enorme Eigendynamik“, sagt Wilde.

Vor allem vor Tarifverhandlungen haben Vertrauensleute gute Karten bei der Mitgliederwerbung, zeigt das Beispiel des Arzneimittelherstellers Octapharma am Standort im niedersächsischen Springe. Stefan Vögtel ist dort Vorsitzender der Vertrauensleute. „Wenn ich zehn Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen führe, treten derzeit anschließend sieben in die Gewerkschaft ein“, erzählt er und freut sich über die Rückenstärkung, die gerade recht kommt: Im kommenden Herbst stehen bei Octapharma Tarifverhandlungen an.

Fotos: Julia Knop

Betriebsratsvorsitzender Christian Wilde ist viel im Betrieb unterwegs, sucht das Gespräch – und hat Ansprachematerial dabei.

Die Forderungen sind hoch und zugleich angemessen: 500 Euro Entgeltsteigerung sowie ein Mitgliedervorteil. „Ein leichter Rutsch wird das nicht“, sagt Vögtel. Dennoch zeigt er Zuversicht. Die IGBCE hat schon vor gut einem Jahr erfolgreich mit Octapharma verhandelt. Damals gab es ein Lohnplus von knapp sieben Prozent – und quasi als Nebeneffekt ein ordentliches Plus bei den Gewerkschaftsmitgliedern. Die IGBCE hatte zuvor die Vertrauensleute in Seminaren fit gemacht für die Mitgliederwerbung. Das hat sich gelohnt.

Stefan Vögtel ist in diesen Tagen fast ständig im Unternehmen auf Missionstour. „Neue Kollegen überzeuge ich leichter, ältere haben häufiger eine gefestigte Meinung“, sagt er. Auch Vögtel schwört auf den persönlichen Draht zur Belegschaft. „Hinter digitalen Nachrichten können sich die Angesprochenen verstecken. Sie müssen nicht darauf reagieren.“

Nicht jede Vertrauensperson im Betrieb ist so kommunikativ wie er; dennoch funktioniert das Team. „Alle geben Hinweise, wen man im Unternehmen auf eine Mitgliedschaft ansprechen kann“, sagt er. Bis zu den Verhandlungen herrscht noch jede Menge Redebedarf. „Danach wird es wieder ruhiger werden“, erwartet Vögtel.

Ein eigener Tarifvertrag – so weit ist es bei der C3-Kaffeeveredelung mit ihren 240 Beschäftigten noch nicht. Auf der Firmenwebseite wirbt das Bremer Unternehmen zwar mit einem Weihnachtsgeld in Höhe eines dreizehnten Gehalts, mit einer bezuschussten betrieblichen Altersvorsorge und mit einer fairen Bezahlung: „Das alles schätzen wir sehr“, sagt Jannic Lenk als Sprecher des Betriebsrats. „Doch das Gehalt war lange niedrig und wurde bis zuletzt seit vielen Jahren nicht angepasst.“ Aber eben nur bis zuletzt.

Denn das neunköpfige Gremium landete einen Coup. „Wir haben zunächst bei ersten Verhandlungen zum Gehalt bemerkt, dass wir schnell an unsere Grenzen stoßen, weil uns ohne Gewerkschaft Druckmittel wie zum Beispiel die Möglichkeit eines Streiks fehlen“, erzählt der Betriebsrat. Aber das Gremium zog rasch eine Lehre daraus: Alle Betriebsratsmitglieder traten geschlossen in die IGBCE ein. „Das hat eine Lawine innerhalb der Belegschaft ausgelöst. Wir haben viele Nachahmer gefunden“, sagt der Betriebsrat, „oft braucht es eben nur einen ordentlichen Anstoß.“

Wir müssen noch viel Aufklärungsarbeit leisten.

Christian Wilde

Zudem hatte das Gremium einen kurzen Draht zur Belegschaft. „Unsere Betriebsratsmitglieder stammen aus allen Bereichen des Unternehmens wie etwa Produktion, Instandhaltung, Labor oder Logistik. So kommen wir mit den Kolleginnen und Kollegen gut ins Gespräch und wissen schnell, wo der Schuh drückt“, berichtet Jannic Lenk. Geholfen hat auch ein Prämienprogramm der IGBCE: Wer ein neues Mitglied wirbt, erhält eine Prämie, wie zum Beispiel ein Messerset oder einen Wasserkocher. „Mittlerweile hat fast jeder davon etwas in der Küche stehen“, scherzt der Betriebsrat.

Der Schulterschluss der Beschäftigten machte sich bald bezahlt. Bei Verhandlungen zwischen dem Betriebsrat und der Geschäftsleitung über eine Betriebsvereinbarung, die auch Vergütungsgrundsätze enthält, kam das Thema Entgelt wieder auf. „Die vielen Eintritte in die IGBCE haben schließlich dafür gesorgt, dass der Arbeitgeber die Höhe der Lohn- und Gehaltstabellen dann doch endlich angeglichen hat“, erzählt Lenk. Mittlerweile ist eine Mehrheit der Beschäftigten im Betrieb Mitglied der IGBCE und die Anpassung bei den Entgelttabellen „ist bereits ein schöner Erfolg, aber nicht das Ende der Fahnenstange“, sagt der Betriebsrat. „Das Ziel der Belegschaft ist ein Tarifvertrag.“