Der Urknall
Gewerkschaft zahlt sich aus. Gemeinsam ist schließlich mehr möglich. Dennoch bleiben Trittbrettfahrer ein Ärgernis. Sie von einer Mitgliedschaft zu überzeugen – dabei können tarifliche Vorteile exklusiv für Mitglieder helfen. Was die Rechtsprechung hierbei zulässt, beschreibt Kathryn Kortmann.
Eisenberger Tarifvertrag
Geschlossen zwischen Verdi und den Waldkliniken Eisenberg, der seit 1. Juli 2023 ausschließlich für Verdi-Mitglieder gilt.
Bundesarbeitsgericht
Entscheidung des BAG (GS) vom 29.11.1967 – GS 1/67 – AP Nr. 13 zu Art. 9 GG.
Grundgesetz
Die negative Koalitionsfreiheit ist in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) festgelegt. Sie beinhaltet das Recht, einer Gewerkschaft fernzubleiben. Sie schützt vor allzu viel Druck, der Gewerkschaft beitreten zu müssen, um nicht schlechter gestellt zu sein.
Tarifvertragsgesetz
§ 3 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) in Verbindung mit § 4 Abs. 1 TVG
Bundesverfassungsgericht
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14.11.2018 (1/BvR 1278/16), Entscheidung des BAG vom 27.1.2016 (4 AZR 441/14)
Reduzierung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn, mehr Urlaub, Lebensarbeitszeitkonto, Nachtschichtzuschläge schon ab 20 Uhr und sechs freie Wochenenden pro Quartal – verbesserte Arbeitsbedingungen, die an ein einziges Kriterium gekoppelt sind: die Gewerkschaftsmitgliedschaft. Klingt wie ein Märchen? Ist es aber nicht. Der sogenannte Eisenberger Tarif machts möglich. 1 Die IGBCE-Schwestergewerkschaft Verdi hat ihn jüngst exklusiv für ihre Mitglieder in einer Klinik im thüringischen Eisenberg ausgehandelt – und geht damit neue Wege.
Mehr als vier Jahrzehnte nämlich ließ eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) Gewerkschaften bei der Verhandlung von Tarifverträgen in puncto Exklusivität für Mitglieder nur wenig Spielraum. 2 Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln – also Regelungen, die Arbeitgeber laut Tarifvertrag dazu verpflichten, sie nur Gewerkschaftsmitgliedern zu gewähren – hatte das BAG 1967 für unzulässig erklärt. Die obersten Arbeitsrichter hielten es zwar für legitim, dass Gewerkschaften für „Trittbrettfahrer“ einen Anreiz zur Mitgliedschaft schaffen wollten, verwiesen aber auf die im Grundgesetz fixierte negative Koalitionsfreiheit. 3 „Die Diskussion war mit dieser Entscheidung auf der praktischen Ebene erst mal für viele Jahre beendet“, sagt Andreas Henniger, Leiter der Abteilung Tarifrecht und Tarifgestaltung der IGBCE, „auf der wissenschaftlichen Ebene ging sie weiter, und die BAG-Entscheidung wurde lange heiß diskutiert.“
Kritiker des Gerichtsurteils argumentierten mit dem Tarifvertragsgesetz. Danach haben ausschließlich die Mitglieder der vertragsschließenden Gewerkschaft im jeweiligen Tarifgebiet Anspruch auf die ausgehandelten tariflichen Leistungen und Regelungen. 4 Befürworter der BAG-Entscheidung wiesen nicht nur auf die negative Koalitionsfreiheit hin. Sie führten außerdem ins Feld, Tarifverträge würden schließlich allgemeine Normen für das Arbeitsleben schaffen; schließe man Beschäftigte davon aus, würde man in deren Grundrechte eingreifen. In diesem Spannungsfeld handelten die Arbeitgeber pragmatisch und in ihrem Sinne. Sie ließen die Leistungen aus den Tarifverträgen freiwillig der gesamten Belegschaft zukommen. Weil sie an einem guten Betriebsklima interessiert sind und weil sie die nicht organisierten Beschäftigten nicht in die Arme der Gewerkschaft treiben wollen.
Doch seit 1967 hat sich die Arbeitswelt auch in puncto Rechtsprechung deutlich verändert. Der Grundsatz „ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ ist Vergangenheit, Spartengewerkschaften buhlen um Mitglieder. „Wenn das BAG zulässt, dass Gewerkschaften in Konkurrenz zueinanderstehen, dann müssen sie auch den nächsten Schritt gehen und ihnen zugestehen, tarifvertragliche Alleinstellungsmerkmale zu verhandeln“, beschreibt Andreas Henniger die Ratio der obersten Arbeitsrichter, den Weg für Differenzierungsklauseln ein wenig zu öffnen. „Schließlich brauchen wir auch etwas, womit wir konkurrieren können.“
Den Weg für die rechtmäßige Anwendung einfacher Differenzierungsklauseln hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2018 endgültig freigemacht, als es die Verfassungsbeschwerde gegen eine BAG-Entscheidung aus dem Jahr 2016 abgelehnt hatte. 5 BAG und Bundesverfassungsgericht sahen es als rechtmäßig an, dass tarifvertraglich geregelte Sonderzahlungen ausschließlich an Gewerkschaftsmitglieder gezahlt werden.
Die IG Metall hatte für Beschäftigte, die zu einem bestimmten Stichtag Gewerkschaftsmitglied waren, im Zuge von massivem Stellenabbau und der Gründung einer Auffanggesellschaft, einen Ergänzungstarifvertrag verhandelt. Der bescherte ausschließlich Mitgliedern eine zusätzliche Abfindung von 10.000 Euro sowie ein höheres Monatseinkommen in der Auffanggesellschaft. Die Klage einer unorganisierten Beschäftigten war erfolglos. Die Verfassungsrichter kamen zu der Auffassung: Die unterschiedliche Behandlung gewerkschaftlich organisierter und nicht organisierter Beschäftigter in einem Tarifvertrag verletzt die negative Koalitionsfreiheit nicht, „solange sich daraus nur ein faktischer Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt ergibt, aber weder Zwang noch Druck entsteht“.
Die Karlsruher Verfassungsrichter bestätigten nicht nur die einfache Differenzierungsklausel, sondern „sorgten auch für einen Urknall, was die zuvor angenommene mathematische Obergrenze der Differenzierung angeht“, sagt Andreas Henniger. „Die lag bislang bei der doppelten Höhe des Gewerkschaftsbeitrags. 10.000 Euro Abfindung gehen weit darüber hinaus.“
Seit dem Karlsruher Urteil gibt es mehr Spielraum für Mitgliedervorteile
Bei finanziellen Vorteilen, die sich aus einer Gewerkschaftsmitgliedschaft ergeben, lassen die einfachen Differenzierungsklauseln den Tarifvertragsparteien seither mehr Spielraum, ebenso bei Freistellungen zusätzlich zum Urlaub. Anders sieht das bei anderen Merkmalen aus. Beschäftigungsverhältnisse oder Kündigungsschutz, die an das Kriterium der Mitgliedschaft gekoppelt sind, sind weiterhin nicht zulässig, sagt Andreas Henniger, „Auch ein höheres Stundenentgelt für Gewerkschaftsmitglieder hätte wohl wenig Aussicht auf Bestand. Ein solch direkter Eingriff in das Verhältnis von Arbeitsleistung und Vergütung wird von der Rechtsprechung nach wie vor kritisch gesehen.“
Die Zeiten, in denen Trittbrettfahrer ganz selbstverständlich von allen Vorteilen profitieren, die andere für sie erkämpft haben, sind vorbei. „Wir verfolgen zukünftig mehr und mehr das Ziel, dass nur noch diejenigen das ganze Buffet genießen dürfen, die auch ihren Obolus dazu beigetragen haben“, hat Ralf Sikorski, viele Jahre stellvertretender Vorsitzender und oberster Tarifpolitiker der IGBCE, die Marschroute festgelegt. Boni wie Einmalzahlungen oder höheres Urlaubsgeld allein reichen der IGBCE nicht mehr, schließlich hängt auch die Zukunft von Gewerkschaften davon ab, ob sie in Tarifverhandlungen für ihre Mitglieder mehr herausholen können. „Diese Frage müssen wir jetzt beantworten. Wegducken ist nicht mehr“, sagt Ralf Sikorski.
Der Eisenberger Tarif hat die Diskussion dazu neu angestoßen.