Praxis

Juni | Juli 2023

Frei statt Bringschicht

Teilzeit in Schicht – geht das? Ja, dank ausgeklügelter neuer Schichtsysteme reduzieren Beschäftigte in den Branchen der IGBCE ihre tariflichen 38 oder 37,5 Wochenstunden auf 32, 33 oder 35 Stunden. Bernd Kupilas hat sich die neuen Modelle erklären lassen.

Foto: Stephen Petrat

Sie kennt den Ärger um die Schichten: Susanne Steinbrecher ist Betriebsrätin bei Lanxess und sitzt im Ausschuss für Arbeitszeit und Entgelte des Gremiums.

Bei ihren Besuchen in Schichtabteilungen hört Lanxess-Betriebsrätin Susanne Steinbrecher fast immer zuerst ein Wort: Ausgleichsschichten. „Das ist für die Kolleginnen und Kollegen Thema Nummer eins“, sagt sie. „Würde man bei uns eine Umfrage machen, dann sagen vermutlich mehr als 50 Prozent der Beschäftigten: Sie würden gerne kürzer arbeiten und dafür auf diese Schichten verzichten.“

Foto: Stephen Petrat

Ausgleichsschichten, anderswo auch Bringschichten genannt, sind bei Lanxess so beliebt wie Zahnweh. Die Betroffenen müssen sie machen, weil sie sonst nicht auf ihre Stundenzahl kommen – aber wirklich Lust darauf hat niemand. Zumal diese Schichten, die man neben dem üblichen Schichtrhythmus erbringen muss, oft ungelegen kommen. „Da müssen die Kolleginnen und Kollegen dann mitten in einem Freiblock für eine Schicht in den Betrieb kommen und finden das natürlich nicht gut.“

Bringschichten entstehen zum Beispiel dann, wenn Betriebe in einem vollkontinuierlichen Fünf-Schicht-System arbeiten, also fünf Gruppen von Beschäftigten jeweils eine Schicht fahren, und das 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche. Längst hat sich das Fünf-Schicht-Modell als gängigstes Modell durchgesetzt. Üblicherweise werden dabei innerhalb von 35 Kalendertagen 21 Schichten geleistet. Daraus ergibt sich eine wöchentliche Arbeitszeit von 33,6 Stunden. Um dann auf die volle tarifliche Arbeitszeit von zum Beispiel 37,5 Stunden in der Chemieindustrie zu kommen, müssen die Beschäftigten zusätzliche Schichten erbringen – die Bringschichten.

Wer auf Teilzeit geht, leistet vielleicht nur noch sechs Schichten oder drei oder gar keine – auch das ist ganz unterschiedlich.

Susanne Steinbrecher, Betriebsrätin bei Lanxess

Zunehmend wollen sie das nicht, erklärt Susanne Steinbrecher – weil sie älter werden, weil sie jemanden pflegen müssen, weil sie Kinder haben, weil sie noch jung sind und mehr Freizeit wollen. Um diesen Bedürfnissen entgegenzukommen, hat der Betriebsrat bei Lanxess mit dem Arbeitgeber vereinbart, dass Beschäftigte auf Antrag weniger oder keine Bringschichten mehr leisten müssen. Bei Lanxess beträgt die vertragliche Arbeitszeit üblicherweise 35,9 Stunden. Gearbeitet wird 33,6 Stunden, was bedeutet: Es müssen zwölf Bringschichten pro Jahr geleistet werden. „Wer auf Teilzeit geht, leistet vielleicht nur noch sechs Schichten oder drei oder gar keine – auch das ist ganz unterschiedlich“, erzählt Susanne Steinbrecher. Das funktioniert, allerdings „bislang noch nicht in dem Ausmaß, wie wir uns das wünschen“, sagt die Betriebsrätin. Derzeit kann nur ein kleiner Prozentsatz von Beschäftigten das Modell nutzen. Das Problem: Die Anträge müssen von den Vorgesetzten genehmigt werden – und die argumentieren mit dem Mangel an Personal und sagen Nein.

Auch bei 50Hertz in Berlin war ein Tarifvertrag der Türöffner für neue Mitglieder. Einen eigenen Haustarifvertrag hat das Unternehmen noch nicht lange, und als jüngst wieder eine Tarifrunde bevorstand, nutzten die Ehrenamtlichen der IGBCE sie für eine Mitgliederoffensive. „Mit den Verhandlungen vor der Brust hatten wir die Argumentation mehr denn je auf unserer Seite“, sagt Betriebsratsmitglied und Elektrotechniker Andreas Tischner. Das Credo des Gremiums: „Je stärker die gewerkschaftliche Basis im Betrieb ist, desto besser ist die Ausgangslage für etwaige Forderungen.“ Das führte schließlich nicht nur zu einem ordentlichen Prozenteplus, sondern bescherte einen zusätzlichen freien Tag für Fortbildung – und zwar exklusiv für Mitglieder der IGBCE. „Die Erkenntnis, dass mit der Gewerkschaft im Rücken mehr drin ist, hallt bis heute im Betrieb nach“, sagt Tischner.

Gerade die junge Generation will nicht mehr so viel arbeiten für die Jungen ist Freizeit das neue Gold.

Norbert Oschmann, IGBCE-Referent

Dabei wäre gerade der Fachkräftemangel ein guter Grund, mehr Teilzeit für Schichtbeschäftigte anzubieten, argumentiert Schichtexperte Norbert Oschmann, der seit vielen Jahren als ­IGBCE-Referent Betriebsräte zum Thema Schichtsysteme weiterbildet. „Gerade die junge Generation will nicht mehr so viel arbeiten“, sagt er, „für die Jungen ist Freizeit das neue Gold.“ Die Unternehmen werden schon bald in massive Schwierigkeiten geraten, „wenn sie die Schichtarbeit nicht attraktiver machen“.

Die Schichtarbeit attraktiver machen – das wollte auch der Betriebsrat des Chemieunternehmens Topas Advanced Polymeres in Oberhausen. Von den rund 70 Beschäftigten arbeitet die Hälfte in Schicht. „Wir wollten allen mehr Souveränität geben“, erzählt Samir Jusufagic, lange Jahre Betriebsratsvorsitzender und mittlerweile als Berater für Schichtsysteme tätig. In einem ersten verabschiedete sich der Betriebsrat vom veralteten und „generell anstrengenden“ Vier-Schicht-Modell und initiierte den Wechsel ins Fünf-Schicht-Modell. Schon das war ein Schritt, „bei dem wir die Belegschaft mitnehmen mussten“. Denn bei einem Vier-Schicht-System arbeiten die Beschäftigten in der Regel 42 Stunden, und es entsteht so, anders als beim Fünf-Schicht-System, ein Anspruch auf Freischichten. Diesen mentalen Wechsel von Positiv- hin zu Negativ-Stunden – „mit dem müssen die Kolleginnen und Kollegen erst mal klarkommen“. Ist dann allerdings der Wechsel vom Vierer- auf das Fünfer-System gelungen, ist der Weg frei, um eine Teilzeit in Schicht anzubieten, indem Bringschichten wegfallen. Das war der zweite Schritt, den der Betriebsrat bei Topas Advanced gegangen ist. Dazu bräuchte man mehr Personal – immer eine schwierige Diskussion mit dem Arbeitgeber. Bei dem Oberhausener Chemieunternehmen wurden letztlich die Planstellen von 32 auf 35 erhöht.

Ein neues Schichtsystem einzuführen ist generell eine brenzlige Angelegenheit, weiß Samir Jusufagic. „Da kochen die Emotionen schnell hoch.“ Deshalb ging der Betriebsrat das Projekt mit Fingerspitzengefühl an. In einer Auftaktveranstaltung wurde das System der Belegschaft vorgestellt. Niemand sollte sich übergangen fühlen. „Wir waren in allen Schichten unterwegs und haben diskutiert“, erzählt Samir Jusufagic. „Uns war im Gremium schnell klar, dass wir keinen Erfolg haben werden, wenn wir die Leute nicht entscheiden lassen.“ Deshalb war von vornherein verabredet: Nach einer Probephase dürfen die Beschäftigten über das neue Schichtsystem abstimmen. Fällt das Votum negativ aus, kehrt der Betrieb zum alten System zurück. Am Ende stimmten fast drei Viertel der Beschäftigten für das neue System. Anfängliche Bedenken zerstreuen sich oft schnell, ist ein neues System erst mal eingeführt.

Jeder kann Teilzeit beantragen und je älter die Leute sind, desto mehr nutzen sie es.

Rainer Vater, Betriebsratsvorsitzender bei Pilkington

Fünf-Schicht-Systemen. Das zeigt das Beispiel des Glasherstellers Pilkington im bayerischen Weiherhammer. Die 460 Beschäftigten arbeiten in vier Schichten im Rhythmus Früh-, Spät, Nachtschicht, dann 24 Stunden frei. So kommen sie auf 40 Wochenstunden, bei einer tariflichen Wochenarbeitszeit von 38 Stunden. Die Überstunden werden durch Freischichten ausgeglichen. Und wer weniger als die 38 tariflichen Stunden arbeiten will, der bekommt eben mehr Freischichten. „Jeder kann Teilzeit beantragen“, erklärt Betriebsratsvorsitzender Rainer Vater, „und je älter die Leute sind, desto mehr nutzen sie es.“ Die Arbeitszeit wird individuell verkürzt. „Manche gehen auf 37 Stunden, manche auf 35, das ist ganz unterschiedlich“, sagt der Betriebsratsvorsitzende. Auf die Art entstehen zu den 27 Freischichten im Jahr weitere Freischichten aufgrund von Teilzeit. Schichtexperte Norbert Oschmann rät bei Vier-Schicht-Systemen generell dazu, die Freischichten fest im Kalender zu hinterlegen. „Also zum Beispiel: Die Spätschicht dienstags und mittwochs habe ich immer frei. Sonst besteht die Gefahr, dass der Meister sagt: Du kannst keine Freischicht machen, ich brauche dich.“

Teilzeit in Schicht geht also – allerdings hat sie Grenzen. Nur selten trifft man Schichtbeschäftigte, die auf einer halben Stelle arbeiten. Bei dem Spezialpapiere-Hersteller Koehler im badischen Oberkirch hat der Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen, die Jobsharing ermöglicht. Zwei Beschäftigte können sich eine Stelle teilen wenn sie die gleiche Qualifikation haben. Pro Abteilung können das bis zu vier Beschäftigte in Anspruch nehmen. Jedoch wird eine Entscheidung erst nach Prüfung aller Aspekte durch die Werkleitung, die Abteilungsverantwortlichen und den Betriebsrat getroffen. „Diejenigen, die es nutzen, finden es gut“, sagt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Gebhard Müller. Wie überhaupt kürzere Arbeitszeiten gut ankommen, erklärt Schichtfachmann Norbert Oschmann: „Ist Teilzeit in Schicht einmal eingeführt, will kaum jemand zurück.“