Recht

Juni | Juli 2023

Das ist ja wohl das Mindeste

Wer außertariflich beschäftigt ist, muss auch über Tarif verdienen – und zwar mit einem ordentlichen Abstand zur obersten Tarifgruppe. Dieses Abstandsgebot wird in vielen Betrieben zum Zankapfel. Wie Betriebsräte mitbestimmen können, beschreibt Bernd Kupilas.

Tarifvertrag

Manteltarifvertrag für die Chemische Industrie in der Fassung vom 22. November 2019, § 1 Satz 1 Ziffer 2.

Urteil

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz 2. Kammer, Urteil vom 27. Januar 2022, Aktenzeichen 2 Sa 114/21.

Betriebs­verfassungsgesetz

§ 5 BetrVG klärt den Arbeitnehmerbegriff. Das Gesetz „unterteilt in Arbeitnehmer sowie Nicht-Arbeitnehmer“, heißt es im Gutachten. AT-Beschäftigte seien Arbeitnehmer, solange sie nicht Leitende Angestellte sind. Also ist der Betriebsrat für sie zuständig, so die Schlussfolgerung.


4

Betriebs­verfassungsgesetz

§ 87 Absatz 1 regelt die zwingenden Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten. In Ziffer 10 ist der Punkt aufgeführt: „Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere die Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung“

Betriebs­verfassungsgesetz

§ 87 Absatz 1 regelt die zwingenden Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten. In Ziffer 10 ist der Punkt aufgeführt: „Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere die Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung“

Bei Shell in Hamburg sind Tarifbeschäftigte eine Minderheit. „Hier am Standort fallen 90 Prozent der Kolleginnen und Kollegen in den AT-Bereich“, erklärt Betriebsratsvorsitzender Susmit Banerjee. Auch bundesweit sind fast die Hälfte der Beschäftigten des Mineralölkonzerns außertariflich eingestuft. Und wie werden diese Beschäftigten bezahlt? „Tja“, sagt Susmit Banerjee, „das ist das Problem.“ 16 tarifliche Entgeltstufen hat der Haustarifvertrag, sechs Stufen hat Shells Entgeltsystem für die Außertariflichen – und diese beiden Tabellen überlappen sich. Wer in die elfte Tarifstufe eingruppiert werde, bekomme ein ähnlich hohes Entgelt wie in der ersten AT-Stufe.

„AT ist hier ständig ein heißes Thema“, sagt ­IGBCEler Susmit. Demnächst treffe man sich wieder vor einer Einigungsstelle, und vor dem Landesarbeitsgericht laufe gerade eine Klage. Der Betriebsrat zog vor die Einigungsstelle, weil der Arbeitgeber ein Verteilungssystem für die Lohnsummen für ATler nicht mit ihm abgesprochen hatte.

Abstand muss sein

Das Beispiel Shell zeigt: Das Thema AT sorgt in vielen Betrieben für Stress zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern. Ein immer wieder auftauchender Streitpunkt ist das Abstandsgebot: Zwischen der höchsten tariflichen Stufe und der niedrigsten AT-Stufe muss ein angemessener Abstand eingehalten werden. Dieses Abstandsgebot kann sich aus den Tarifverträgen, aus Betriebsvereinbarungen oder aus dem Arbeitsvertrag ergeben. Der Manteltarifvertrag in der Chemieindustrie schreibt beispielsweise vor, dass das Entgelt für eine Zuordnung zum AT-Bereich „die tariflichen Mindestbestimmungen überschreiten“ muss. 1

Doch wie groß muss der Abstand sein? „Manche Arbeitgeber stellen sich auf den Standpunkt: ein Euro reicht“, erklärt Andreas Henniger, Leiter der Abteilung Tarifrecht/-gestaltung der IGBCE in Hannover. Das sieht die Gewerkschaft anders. „Ein Euro reicht keinesfalls“, sagt Andreas Henniger. „Immerhin arbeiten AT-Beschäftigte auch auf einem Qualifikations- und Verantwortungsniveau oberhalb des Tarifbereichs.“ Deshalb sollte die Tariflogik fortgeschrieben und zwischen unterstem AT-Band und höchster Tarifgruppe mindestens der Abstand vereinbart werden, wie er auch zwischen höchster und zweithöchster Tarifgruppe besteht. „In der chemischen Industrie sind das rund 7 Prozent. Ist dazu noch eine längere Arbeitszeit zu berücksichtigen, ist man schnell bei 10 Prozent.“

Wie berechnet man den Abstand?

Streit gibt es oft auch über die Frage: Wie genau wird denn dieser Abstand berechnet? Schließlich sind tarifliche und außertarifliche Entgelte oft sehr unterschiedlich ausgestaltet. Die IGBCE steht auf dem Standpunkt: In ein tarifliches Entgelt müssen zunächst neben dem Monatsentgelt aus einer Tabelle alle weiteren Bestandteile hineingerechnet werden. Erst das bildet den Sockel, erst darüber beginnt der außertarifliche Bereich. „Arbeitgeber nehmen oft nur die nackte Zahl aus der Tabelle als Berechnungsgrundlage“, sagt Isabel Eder, Leiterin der Abteilung Mitbestimmung/Betriebsverfassung, „das führt zu verfälschten Ergebnissen". Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz hat die Sicht der Gewerkschaft jüngst in einem Urteil bestätigt. 2 Dem Urteil zufolge müssen alle geldwerten Bestandteile bei der Berechnung des tariflichen Vergleichsentgelts – wie auch des AT-Entgelts – hineinberechnet werden, also zum Beispiel Urlaubs- und Weihnachtsgeld oder Beträge aus der Entgeltumwandlung oder dem Demografiefonds. Aktuell müsste also zum Beispiel auch eine Inflationsausgleichsprämie eingerechnet werden.

Ist der Betriebsrat für AT zuständig?

Arbeitgeber argumentieren gerne: Was außerhalb der Geltung des Tarifs passiert, geht weder Gewerkschaft noch Betriebsrat etwas an. Der Wiesbadener Rechtsprofessor Daniel Klocke kommt in einem neuen Gutachten zu dem Ergebnis: Betriebsräte haben ganz klar das Recht, bei den Entgelten von AT-Beschäftigten mitzureden und auch hinsichtlich des Abstands zum Tarifbereich mitzubestimmen.

Grundsätzlich gilt: Der Betriebsrat ist für alle Themen von AT-Beschäftigten inhaltlich zuständig. Das ergibt sich aus Paragraf 5 Betriebsverfassungsgesetz. 3 Gesetzliche Grundlage bei Fragen der Entlohnung ist Paragraf 87 der Betriebsverfassung. 4 Danach hat der Betriebsrat auch in „Fragen der betrieblichen Lohngestaltung“ mitzubestimmen. Konkret heißt das: Betriebsräte können bei der grundsätzlichen Ausgestaltung der Entgelte mitreden, etwa bei Gehaltsbändern oder Entgeltgruppen. Die konkrete Entgelthöhe wird dann immer noch vom Arbeitgeber festgelegt. Beispiel Mindestabstand: Wenn eine Betriebsvereinbarung einen Mindestsockel zwischen höchster Tarif- und niedrigster AT-Stufe festlegt, „kann der Arbeitgeber oberhalb dieses Sockels diese Entgelte immer noch weiterentwickeln“, sagt die Juristin Isabel Eder. Die Argumentation, hier würde in die Autonomie des Arbeitgebers eingegriffen, ziehe nicht. Schließlich stimmt der Betriebsrat nur bei den Grundsätzen der Lohngestaltung mit – so wie es im Betriebsverfassungsgesetz festgeschrieben ist.

Was sollten Betriebsräte regeln?

Die IGBCE empfiehlt, Regeln zu Entgelten für AT-Beschäftigte in Betriebsvereinbarungen festzulegen. Darin sollte ein Mindestabstand möglichst konkret festgelegt werden. Dazu müsse der Abstand nicht unbedingt explizit als Prozentsatz geregelt werden, sagt Tabea Bromberg, zuständige Fachfrau für AT-Fragen bei der IGBCE. Der Abstand könnte sich auch aus der Definition der Entgeltbänder oder Entgeltgruppen im Verhältnis zum Tarif ergeben. „Aber in der Kommunikation gegenüber den Beschäftigten ist es natürlich von Vorteil, wenn man mit einer konkreten Prozentzahl arbeiten kann.“ Bei der Berechnung der zugrundeliegenden Entgelte muss neben allen geldwerten Vorteilen auch der Faktor Arbeitszeit einbezogen werden.

Du hast Fragen?

Die IGBCE bietet eine digitale Sprechstunde zum Thema außertarifliche Beschäftigte, Tarif und Mitbestimmung an. Sie findet am 3. Juli, von 11 bis 12 Uhr, statt. Isabel Eder, Leiterin der Abteilung Mitbestimmung/Betriebsverfassung, und Andreas Henniger, Leiter der Abteilung Tarifrecht/-gestaltung, werden Fragen beantworten. Bitte melde dich vorab unter: ­sprechstunde@igbce.de an. Dort kannst du auch gerne schon deine Fragen einreichen. Nach erfolgter Anmeldung senden wir dir den Besprechungslink zu.

Rund ums Recht

Weitere interessante Entscheidungen und spannende Urteile aus dem Arbeits- und Sozialrecht findest du auch in „Rund ums Recht“ – einer Publikation der Abteilung Rechtspolitik/Rechtsschutz der IGBCE.

In dieser Ausgabe: „Gleicher Lohn ist keine Frage des Verhandlungsgeschicks“. Es geht um eine Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts. Frauen haben im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen für die gleiche Arbeit Anspruch auf den gleichen Lohn. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob Männer für sich einen besseren Lohn ausgehandelt haben. In der Rubrik Sozialrecht wird das Urteil des Bundessozialgerichts zu der Frage aufgegriffen, ob ein Wegeunfall auch ein Arbeitsunfall sein kann.


Rund ums Recht steht hier für Dich zum Download bereit.