Interview

Juni | Juli 2023

Foto: emanuelbloedt.de

Durchblick im Paragrafendschungel

Zur Person:

Sonja Grünwald (62) ist Teamleiterin in der Handkonfektionierung der Pharma-Zentrale in Herdecke. Sie ist auch Mitglied im Bezirksvorstand der IGBCE Dortmund-Hagen.

Sonja Grünwald ist Ehrenamtlerin mit Leib und Seele. 16 Jahre lang war sie Betriebsratsvorsitzende, engagiert sich seit vielen Jahren in der IGBCE und ist seit 13 Jahren ehrenamtliche Richterin am Arbeitsgericht Hagen. Im Interview mit unserer Autorin Kathryn Kortmann erzählt sie aus ihrem Alltag als Praktikerin, die juristische Auseinandersetzungen aus zwei Perspektiven kennt – vor und hinter der Richterbank.

Sonja, als ehrenamtliche Richterin sitzt du im Hagener Arbeitsgericht hinter der Richterbank. Einmal fandest du dich auf der anderen Seite der Bank wieder.
Wie fühlte sich das an?

Ganz ehrlich? Ich war ein bisschen aufgeregt, die Perspektive war völlig ungewohnt und ja, ich sitze tatsächlich lieber auf meinem Stammplatz, also links vom Richter oder der Richterin. Da sitze ich, seit ich vor 13 Jahren zur ehrenamtlichen Richterin berufen wurde.

Immer links?

Ja, wer wo sitzt, ist in unserer Rechtsprechung genau festgelegt. Die ehrenamtliche Vertretung aus dem Lager der Beschäftigten sitzt links, die Vertretung der Arbeitgeber rechts vom Vorsitz.

Wie kam es zum Perspektivwechsel, also zum Platz vor der Richterbank?

Es gab Unstimmigkeiten am Arbeitsplatz, es ging wie meistens ums Geld, und ich fühlte mich trotz mehrerer Anläufe, Gespräche zu führen, unverstanden. Weil ich bei den Verantwortlichen im Betrieb auf taube Ohren gestoßen bin, ich das Thema aber für mich ein für alle Mal abschließen wollte, habe ich mich entschieden, mir mein Recht zu holen und bin beim DGB-Rechtsschutz vorstellig geworden. Als ehrenamtliche Richterin und auch durch meine jahrelange Erfahrung als Betriebsrätin weiß ich diese segensreiche Einrichtung zu schätzen. Die Kolleginnen und Kollegen aus der DGB-Rechtsabteilung haben einen sehr guten Blick dafür, was Aussicht auf Erfolg hat – und was nicht. Und das kommunizieren sie auch ganz offen.

Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei Paar Schuhe, und ohne den DGB-Rechtsschutz hätte ich mein Recht sicherlich nicht durchgesetzt.

Bei dir waren sie demnach hoffnungsfroh?

Eine Garantie konnten sie mir vorab natürlich auch nicht geben. Aber ja, die Klage hatte Erfolg, die Unstimmigkeiten haben wir mit einem Kompromiss gelöst. Eigentlich hätten wir das auch außergerichtlich klären können. Aber manchmal braucht es zu einer einvernehmlichen Lösung eben die Gerichte. Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei Paar Schuhe, und ohne den DGB-Rechtsschutz hätte ich mein Recht sicherlich nicht durchgesetzt.

Warum nicht?

Schon deshalb, weil eine Klage, wenn ich ganz auf mich allein gestellt bin, auch mit einem finanziellen Risiko verbunden ist. Ohne Rechtsbeistand in den Kampf zu ziehen, ist zwar rein rechtlich möglich, ist aber ein heißes Eisen, an dem ich mich eigentlich nur verbrennen kann. Die formalen Hürden sind hoch und die Rechtslage oft so kompliziert, dass nur Expertinnen und Experten den Überblick im Paragrafendschungel behalten. Mit dem DGB-Rechtsschutz im Rücken, den alle IGBCE-Mitglieder in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen genießen, ist einfach mehr drin. Allein dafür lohnt sich schon die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft.

Betriebsräte müssen nicht alles wissen, sie müssen nur wissen, an wen sie sich im Zweifel wenden können.

Wie kommen Mitglieder in den Genuss des Rechtsschutzes?

Der Zugang zur Rechtsberatung ist wirklich unkompliziert: anrufen, Termin vereinbaren und zur Beratung gehen. Und wer sich nicht traut, selber zum Hörer zu greifen und um einen Termin zu bitten, der geht den Weg über den Betriebsrat. Die Scheu, die Kolleginnen oder Kollegen im Betrieb anzusprechen, ist oft kleiner. Als Betriebsrätin hatte ich immer einen relativ kurzen Draht zum DGB-Rechtsschutz. Sich für die Kolleginnen und Kollegen einzusetzen, sich für sie an den geeigneten Stellen zu informieren, ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Betriebsratsarbeit. Das habe ich auch meinen Nachfolgern im Betriebsrat mit auf den Weg gegeben. Betriebsräte müssen nicht alles wissen, sie müssen nur wissen, an wen sie sich im Zweifel wenden können.

Im Zweifel?

Die Themenvielfalt, mit denen die Kolleginnen und Kollegen sich an den Betriebsrat wenden, ist groß. Die reicht von Zeiterfassung, Pausenregelungen und Bezahlung von Überstunden über Umkleidezeiten oder Fragen rund ums Kindergeld bis zur Anerkennung einer Schwerbehinderung. Das können Betriebsräte nicht alles wissen.

Auch nicht, wenn sie schon 13 Jahre als ehrenamtliche Richterin tätig sind?

Nein, wenngleich ich mich aus genau diesem Grund auf das Ehrenamt eingelassen habe. Ich war gerade drei Jahre als Betriebsratsvorsitzende im Amt, als mich der IGBCE-Bezirksvorstand gefragt hat, ob ich mich als ehrenamtliche Richterin zur Verfügung stellen würde. Ich habe nur kurz überlegt und dann zugesagt, weil ich gespürt habe, dass mir das enormen Gewinn für meine Betriebsratstätigkeit bringen könnte. Genauso war es dann auch. Die Sitzungen im Arbeitsgericht haben mich für die Betriebsratsarbeit beständig weiterqualifiziert und meinen Horizont enorm erweitert. Ich kann viel besser einschätzen, für was es sich im Betrieb zu kämpfen lohnt und was aussichtslos ist.

Ein Beispiel, bitte!

Umkleide- und Waschzeiten beispielsweise sind ein echtes Reizthema. Grundsätzlich fallen sie zwar nicht unter die Arbeitszeiten, aber es gibt Ausnahmen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Welche Bedingungen das sind, habe ich über die Jahre immer wieder mitbekommen. Das hat mich für die Betriebsratsarbeit präpariert und dazu macht die Arbeit im Gericht auch wirklich Spaß.

Es gibt einen großen Mangel an ehrenamtlichen Richtern und Richterinnen.

Das scheint so, 13 Jahre sind ja eine lange Zeit.

Dass ich das Amt so lange mache, war eigentlich gar nicht vorgesehen. Die Berufung gilt immer für fünf Jahre. Aber wer erst mal am Haken hängt, der kommt da so schnell nicht wieder davon los. Es gibt einen großen Mangel an ehrenamtlichen Richtern und Richterinnen. Das Amt ist nicht unbedingt beliebt, dabei ist es durchaus spannend, was da verhandelt wird. Und wichtig für die Akzeptanz von Urteilen ist es außerdem.

Wozu braucht es in der Rechtsprechung eigentlich Laien hinter der Richterbank?

Ehrenamtliche Richterinnen und Richter wissen, wie der Hase im Betrieb läuft, sie können Vorgänge zum Teil ganz anders einschätzen als Außenstehende, die nicht wissen, wie es in Produktionshallen, Werkstätten und Büros von Unternehmen zugeht. Ich bringe mein Wissen aus der Arbeitswelt und meinen gesunden Menschenverstand, manchmal auch mein Bauchgefühl mit ein. Daran sind die hauptamtlichen Richterinnen und Richter, selbst wenn sie noch so viel Erfahrung in ihrer Tätigkeit gesammelt haben, jedes Mal aufs Neue interessiert. Dieses natürliche Rechtsempfinden von Laien, das bei der Urteilsfindung einfließt, soll dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung Rechnung tragen und so letztlich die Demokratie stärken.