Interview

August | September 2023

Gegen den Trend

Foto: Sven Ehlers

Zur Person:

Frank Gottselig
(rechts im Bild) ist Konzernbetriebsratsvorsitzender beim Hygieneartikel­-Hersteller Essity in Mannheim. Der Konzern ist bekannt durch Marken wie Zewa, Tempo und Tork.

Sebastian Frank
ist Vorsitzender der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV).

Das Fachkräftemangel-Gespenst geht um, und zugleich werden Ausbildungsplätze immer rarer. Nicht so bei Essity in Mannheim. Wieso es dort besser läuft, was das mit Demografieanalyse zu tun hat und wie es dem Betriebsrat gelungen ist, die Ausbildungsquote zu verdoppeln, erzählen Betriebsratsvorsitzender Frank Gottselig und JAV-Vorsitzender Sebastian Frank unserem Autor Andreas Schulte im Gespräch.

Nur noch jeder fünfte Betrieb bildet aus. Das belegt der neue Berufsbildungsbericht der Bundesregierung. Wie habt ihr die Zahl eurer Azubis über die vergangenen Jahre auf nunmehr 106 über alle Ausbildungsjahre verdoppelt?

Frank Gottselig: Das ist ein kontinuierlicher Prozess, der auch vom demografischen Wandel getrieben wird. Wir müssen die altersbedingt ausscheidenden Kollegen ersetzen. Dazu haben wir schon vor 15 Jahren eine demografische Untersuchung der Beschäftigtenstruktur durchgeführt. Durch die Nutzung von Altersteilzeit und Lebensarbeitszeitkonten können wir unseren jährlichen Bedarf an Azubis seither genau ermitteln. Der Arbeitgeber erkennt die Notwendigkeit dieser Einstellungen an, die wir mit der Geschäftsführung gemeinsam kalkulieren.

Wie überzeugt ihr Azubis von Essity?

Sebastian Frank: Wir stehen in der Metropolregion Rhein-Neckar mit vielen Betrieben im Wettbewerb. Die Azubis erwarten überall ein modernes Umfeld. Das bieten wir. Denn IT wird auch in mechanischen Berufen – zum Beispiel beim Schlosser immer wichtiger. Deshalb hat bei uns jeder Azubi Zugriff auf einen Laptop. Auch unser Arbeitsmaterial – zum Beispiel Drehmaschinen ist immer auf dem jüngsten Stand. Wir bieten E-Learning-Inhalte und ein Mentorenprogramm. Und schließlich haben wir mit Andreas Bär einen freigestellten Betriebsrat, der sich intensiv um Aus- und Weiterbildung kümmert.

Frank Gottselig: Wir werben natürlich auch gezielt. Konkret arbeiten wir dazu schon lange mit Partnerschulen zusammen. Auf einem sogenannten Girls' Day versuchen wir zusätzlich, ganz gezielt junge Frauen anzusprechen. Wir stellen von Beginn an eine höhere Eingruppierung in Aussicht und versuchen, unsere Arbeitgebermarke aufzuwerten. Dazu sind wir bei der Bundesgartenschau in Mannheim als Sponsor vertreten, und wir werben auf einer Straßenbahn mit unserem Firmennamen.

Wir erreichen die Jugend besser als früher. Früher gab es nur ein schwarzes Brett im Betrieb. Mittlerweile bedienen wir die gängigen Social-Media-Kanäle wie Instagram, Facebook oder Tiktok.

Sebastian Frank

Welche Rolle spielt Gewerkschaftsarbeit?

Frank: Eine große. Wir arbeiten eng mit dem Bezirk zusammen. Als Betriebsrat und JAV schreiben wir zum Beispiel jeden Auszubildenden persönlich an und laden die Azubis zum Grillfest des Bezirks ein. Dort stellen wir Gewerkschaftsarbeit vor: Wir sagen den jungen Leuten in lockerer Runde, dass wir uns für sie einsetzen und was wir für sie tun können. Die Zahl derjenigen, die der Einladung folgen, steigt kontinuierlich. Das spricht sich rum. Andere Betriebe haben unsere Maßnahmen mittlerweile kopiert.

Sebastian: Zudem gibt es jedes Jahr für alle Azubis ein Zeltlager – alle zwei Jahre am Bodensee und zwischendurch an anderen Orten. Zuletzt waren wir in der Nähe von Magdeburg. Für Essity-Azubis übernimmt der Arbeitgeber die Teilnahmegebühren. Auch dort stellen Sekretäre und wir Gewerkschaftsarbeit vor. Und auch dort steigt die Zahl der Teilnehmer.

Worauf führst du das zurück?

Sebastian: Wir erreichen die Jugend besser als früher. Früher gab es nur ein schwarzes Brett im Betrieb. Mittlerweile bedienen wir die gängigen Social-Media-Kanäle wie Instagram, Facebook oder Tiktok. Dort können wir Begeisterung entfachen. Das spüren wir dann auch im Zeltlager. Das ist ja das Schöne an Gewerkschaftsarbeit: Man kommt durch sie leicht mit jedem in Kontakt.

Euer Engagement trifft auf ein schwieriges Umfeld. Denn insgesamt verliert die Ausbildung in Deutschland an Bedeutung, auch weil viele junge Menschen lieber studieren. Wie haben sich denn die Quantität und die Qualität der Bewerbungen bei euch entwickelt?

Frank: Dieser Trend geht auch an uns nicht spurlos vorüber. Insgesamt gilt die Arbeit in der Papierindustrie als wenig attraktiv. Hinzu kommt natürlich, dass kaum jemand mehr Schichtarbeit machen will.

Wie drückt sich das in Zahlen aus?

Frank: Früher haben wir aus 2000 bis 2500 Bewerbungen für eine Ausbildung die besten 25 auswählen können. Aber diese Zeiten der Rosinenpickerei sind vorbei. Wenn es hochkommt, erhalten wir heute noch rund 30 Prozent der Bewerbungen von früher. Mit der sinkenden Anzahl geht auch ein Qualitätsverlust einher. Das beginnt mit Rechtschreibschwächen und endet bei einer gewissen Orientierungslosigkeit. Da geht zum Beispiel aus der Bewerbung nicht hervor, ob sich die jungen Leute jetzt für den Beruf des Elektronikers oder den des Anlagenführers bewerben. Wir müssen mittlerweile auch den einen oder anderen nehmen, der früher durchs Rost gefallen wäre.

Wir führen gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Nachhilfestunden ein – etwa in technischer Mathematik.

Frank Gottselig

Wie macht sich das im Arbeitsalltag bemerkbar?

Frank: Es gibt natürlich auch heute noch sehr gute Auszubildende. Das ist aber von Jahrgang zu Jahrgang verschieden. Grundsätzlich haben wir es mit jungen Leuten im Alter von 15 oder 16 Jahren zu tun. Da erkennt auch so mancher erst im zweiten Ausbildungsjahr den Ernst der Situation. Insgesamt aber ist der Betreuungsaufwand gestiegen. Deshalb führen wir gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Nachhilfestunden ein – etwa in technischer Mathematik. Dafür kommen über einen Bildungsträger der Bundesagentur eigens Lehrer zu uns ins Haus.

Wie nehmen Azubis solche Angebote wahr?

Sebastian: Einige fordern sie und nehmen sie dankbar an, andere muss man anstupsen.

Wie lassen sich die Defizite sonst noch ausgleichen?

Frank: Wir sehen Potenzial in generationsausgewogenen Teams.

Sebastian: Das bedeutet: Wir schauen, wo der Schichtplan Möglichkeiten für die Zusammenarbeit zwischen älteren und jüngeren Kolleginnen und Kollegen ermöglicht. So können die Älteren zum Beispiel ihre Erfahrungen als Maschinenführer weitergeben. Denn hier gibt es für Jüngere auch nach der Ausbildung noch viel zu lernen. Andersherum haben manche Ältere weiterhin Berührungsängste und Verständnisprobleme mit IT-Tools. Hier sind dann die Jüngeren fitter.

Die Zahl der Azubis ist bei Euch gestiegen. Wird sich dieses Wachstum in der Zukunft fortsetzen?

Frank: Die Zahl der Azubis wird vermutlich nicht weiter anwachsen, aber stabil bleiben. Mein Job als Betriebsratsvorsitzender ist es, Jobs zu sichern. Mit den hohen Energiepreisen und langen Genehmigungsverfahren stehen wir in Deutschland in unserer Branche vor großen Herausforderungen. Weitere Ausbildungsplätze würden auch neue Investitionen bedeuten. Es ist fraglich, ob der Arbeitgeber dazu bereit wäre. Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es daher, den Verbleib der Azubis nach der Ausbildung zu sichern.

Gelingt das?

Frank: Früher haben rund 85 Prozent nach ihrer Ausbildung bei uns weitergemacht. Heute sind es vielleicht noch 60 Prozent. Denn viele hängen nach der ersten Ausbildung noch eine weitere dran oder orientieren sich um. Das Problem ist: Diese Abgänge müssen wir am Arbeitsmarkt ausgleichen, und das ist sehr schwierig, weil entsprechende Fachkräfte dort kaum zu finden sind.