»Die Lage ist dramatisch«
Francesco Grioli erklärt im Gespräch mit Kathryn Kortmann, warum es höchste Zeit ist, dass die Unternehmen dem Fachkräftemangel mit mehr Ausbildung begegnen, warum es betriebliche Lösungen geben muss und wo die Betriebe Auszubildende finden können.
Francesco, nahezu alle Branchen klagen über Fachkräftemangel. Ist die Lage wirklich so dramatisch, dass die IGBCE dem Thema nun sogar eine eigene Kampagne widmet?
Auf jeden Fall. In Deutschland fehlen schon jetzt rund 1,9 Millionen Fachkräfte. Diese riesige Lücke werden wir mit unserer Jugend-Kampagne noch gar nicht stopfen können. Denn Ausbildung braucht Zeit. Die jungen Menschen, die wir jetzt ausbilden, stehen erst in drei oder dreieinhalb Jahren zur Verfügung. Aber genau dann ist es wichtig, dass es genügend frische Fachkräfte gibt.
Warum?
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird sich in vier, spätestens in fünf Jahren noch einmal enorm zuspitzen. Dann nämlich geht die sogenannte Babyboomer-Generation in ihren wohlverdienten Ruhestand und es kommt zum großen Demografie-Bang. Darauf müssen wir vorbereitet sein und die Betriebe jetzt dazu bringen, in die Ausbildung ihrer künftigen Fachkräfte zu investieren. Und zwar weitsichtig und deutlich über den aktuellen Bedarf hinaus. Dafür braucht es eine engagierte Kampagne, wie unsere IGBCE Jugend sie jetzt fährt. Von alleine passiert leider nichts, die Unternehmen gehen das Thema Fachkräfte sehr kurzsichtig an. Anders lässt es sich kaum erklären, dass die Ausbildungsquote zum Beispiel in der chemischen Industrie aktuell nur bei 4,3 Prozent liegt. Das ist meilenweit davon entfernt, die demografische Entwicklung auch nur ansatzweise aufzuhalten. Wenn die Unternehmen nicht sofort gegensteuern, ist dieser Aderlass kaum mehr zu kompensieren. Denn klar ist doch auch: Die vielfältigen Herausforderungen, die die Transformation an die Industrie stellt, können wir nur mit der bestmöglich ausgebildeten Belegschaft bewältigen.
Das bedeutet?
Die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie steht auf dem Spiel. Die ist in Gefahr, wenn zukünftig zum Beispiel Linien und Anlagen stehenbleiben – und zwar nicht, weil keine Aufträge da sind oder Vorprodukte infolge gestörter Lieferketten fehlen, sondern weil es dauerhaft keine Kolleginnen und Kollegen mehr gibt, die die Anlagen bedienen können. Deshalb müssen wir das Thema jetzt alle gemeinsam und mit vereinten Kräften auf die Agenda in den Betrieben setzen.
Wie wollt ihr dem Fachkräftemangel konkret entgegenwirken?
Indem wir auf betrieblicher Ebene dafür sorgen, dass ausreichend ausgebildet wird und die Unternehmen in ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunft junger Menschen investieren. Das sind Probleme, die in den Betrieben auftauchen und zwar in unterschiedlichster Prägung. Eine Musterlösung von der Stange gibt es nicht. Jeder Betrieb muss für sich Antworten auf die Fragen finden, wie es um die demografische Entwicklung bestellt ist, ob schon jetzt genügend ausgebildet wird, um den drohenden Fachkräfteverlust auszugleichen. Welche Kompetenzen fehlen jetzt und zukünftig mit Blick auf die Transformation? Gemeinsam mit den Betriebsräten sind die Jugend- und Auszubildendenvertretungen gefragt, auf die Geschäftsführungen zuzugehen und Betriebsvereinbarungen abzuschließen, die die Zukunft der Industrie hierzulande sichern und jungen Menschen eine Perspektive geben.