Arbeit, Freizeit, Unfall
Im Homeoffice gestürzt, weil man dem Postmann öffnen wollte – ist das ein Arbeitsunfall? Kommt unter anderem darauf an, was der Bote geliefert hat. Bernd Kupilas hat einige aufschlussreiche, aktuellere Fälle aus dem Unfallversicherungsrecht protokolliert, die jüngst auf einer Tagung der IGBCE diskutiert wurden.
Lehrfall
nach Spellbrink, in Mediziner Sachverständiger 2018, Seiten 164 bis 170
Bundessozialgericht
Urteil vom 26.9.2024, B 2 U 15/22 R
Bundessozialgericht
Urteil vom 8.12.2021, B 2 U 4/21 R
Bundessozialgericht
Urteil vom 26.9.2024, B 2 U 14/22 R
Sozialgesetzbuch VII
In Paragraf 8, Absatz 1 heißt es: „Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.“
Bundessozialgericht
Urteil vom 6.5.2021, B 2 U 15/19 R
Wenn der Postmann zweimal klingelt
Es klingelt. Andy ist im Homeoffice, das ist vertraglich mit dem Arbeitgeber auch so geregelt. Er will öffnen, geht die Treppe von seinem Arbeitsplatz im ersten Stock hinunter und stürzt dabei schwer. In diesem erdachten Lehrfall gibt es drei Möglichkeiten: Der Bote lieferte eine Privatsendung mit Schuhen von einem Onlinehändler; der Bote lieferte Druckerpatronen für den dienstlichen Drucker im Homeoffice, die von der Chefin bestellt worden waren. Oder: Der Bote lieferte beides. 1
Für juristische Laien scheint folgende Antwort naheliegend: Schuhe – kein Arbeitsunfall. Druckerpatronen – Arbeitsunfall. Beides – hm, eher Arbeitsunfall. Aber: Es gibt einen Fallstrick. Die entscheidende Frage lautet nicht: Was wurde geliefert? Sie lautet: Was war die Absicht des Unfallopfers? Erwartete Andy schon ungeduldig die Schuhe für seinen Privatgebrauch und hastete deshalb überstürzt die Treppe hinunter? Dann wäre es kein Arbeitsunfall. Oder erwartete Andy die Druckerpatronen der Chefin, die er auch dringend brauchte? Dann wäre es einer. Oder erwartete er beides? In letzterem Fall, betont Peter Voigt, Justiziar der IGBCE in Hannover, „kommt es darauf an, aus welcher Motivation Andy vorrangig handelte“. Weil er sich so auf seine neuen Schuhe freute, die er am Nachmittag direkt nach Feierabend ausprobieren wollte? Oder weil er dringend die Druckerpatronen erwartete?
Objektivierte Handlungstendenz
Juristinnen und Juristen gehen solche Fälle systematisch an. Sie fragen: Was wollte der oder die Verunglückte eigentlich? Diente die Handlung den Interessen des Unternehmens? Oder diente es privaten Interessen? Was also, etwas formal-juristischer ausgedrückt, war die Handlungstendenz? Zugleich ist es wichtig, diese Frage aus objektiver Sicht zu beantworten. Man tritt einen Schritt zurück und begibt sich in die Rolle eines Beobachters von außen, man objektiviert den Fall.
Es reicht also nicht aus, wenn jemand sagt, er wollte etwas für die Arbeit tun; es muss auch durch sein Verhalten oder die Situation erkennbar sein – die Druckerpatronen also tatsächlich bestellt und die Lieferung an diesem Tag erwartbar sein. Fachleute sprechen von der objektivierten Handlungstendenz.
Wenn der Heizkessel explodiert
Im Jahr 2024 beschäftigte ein dramatischer Fall die Gerichte. Ein Beschäftigter wollte im Homeoffice gerade seine Arbeit aufnehmen, als er merkte: Da stimmt etwas mit der Heizung nicht, in der Wohnung ist es viel zu kalt. Er schaute im Keller nach, drehte am Temperaturregler. Da kam es zu einer Verpuffung im Heizkessel, eine Klappe flog dem Beschäftigten um die Ohren, er erlitt schwere Augenverletzungen. Das Bundessozialgericht urteilte: Das war ein Arbeitsunfall. Der Betroffene hat im Sinne des Unternehmens gehandelt. 2 Ohne Heizung wäre der Arbeitsplatz nicht nutzbar gewesen. Dass er dabei auch einen privaten Anlass hatte, schließlich ging es um sein privates Haus, ist unerheblich.
Aus dem Bett ins Homeoffice
Wenn ich aus dem Bett zum Homeoffice gehe und dabei stürze – ist das ein Arbeitsunfall? Ja, sagte das Bundessozialgericht im Jahr 2021. In dem Fall brach sich der Kläger einen Wirbel. 3 Wenn der Betroffene unmittelbar zum Arbeitsplatz geht –ohne Umweg zur Kaffeemaschine –, dann ist es ein Arbeitsunfall, weil dieser Gang ein Betriebsweg ist. Die Betonung in diesem Fall liegt auf: ohne Umweg über die Kaffeemaschine. Dieser Fall lehrt: Auch im Homeoffice gibt es Betriebswege. Den klassischen Wegeunfall gibt es aber nicht.
Knie kaputt beim Betriebsfußball
Ein Großunternehmen mit 11.000 Beschäftigten organisierte ein Betriebsfest. Im Rahmen des Festes gab es auch ein Fußballturnier von Betriebsmannschaften. Der Kläger verdrehte sich beim Spiel das Knie und wollte, dass dieser Vorfall als Arbeitsunfall anerkannt wurde. Er argumentierte: Der Pokal sei vom Unternehmen gesponsert, das Turnier im Intranet beworben worden. Die Veranstaltung habe auch Werbewirkung nach außen gehabt, weil die Presse berichtete. Das alles überzeugte das Bundessozialgericht jedoch nicht. Es urteilte: Mögliche Werbewirkung schön und gut, aber für den Kläger stand das Privatvergnügen am Fußball als Motiv im Vordergrund – kein Arbeitsunfall! 4
Die kollabierte Bankkauffrau
Wenn man sich beinahe zu Tode ärgert über den Chef – ist das dann ein Arbeitsunfall? Um diese Frage ging es in dem Fall einer Bankkauffrau aus dem Jahr 2019. Am Kassenschalter war ein Fehlbetrag entstanden, der Filialleiter wollte dies der Zentrale melden. Eine Kollegin mischte sich ein, sie nahm ihren betroffenen Kollegen in Schutz, bei dem der Fehlbetrag entstanden war. Die Bankkauffrau ärgerte sich dermaßen über ihren Chef, dass sie einen Herzstillstand erlitt. Ein Notarzt reanimierte sie erfolgreich. Das Landessozialgericht urteilte: Nein, das ist kein Arbeitsunfall, denn es fehle das, was einen Unfall ausmache: ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis. 5
Ob sich jemand am Arbeitsplatz aufrege, sei Frage des persönlichen Temperaments, und Ärgernisse am Arbeitsplatz seien alltäglich Das Bundessozialgericht als nächsthöhere Instanz sah das jedoch anders: Auch alltägliche Ärgernisse können ein Ereignis von außen sein. Der Fall wurde an das Landessozialgericht zurückverwiesen. 6
Warum ist das wichtig?
Arbeitsunfall oder nicht, warum ist das wichtig? „Weil es einen Unterschied macht“, sagt Sozialrichterin Christine Osterland, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundessozialgericht. Je nachdem, ob es sich um einen Arbeits- oder einen Freizeitunfall handelt, erhalten Versicherte unterschiedliche Leistungen – und generell sind die Leistungen der Berufsgenossenschaft nach einem Arbeitsunfall besser als die Leistungen der Krankenkasse. Das gilt für die Heilbehandlung. Das gilt aber auch für eine eventuelle Verletztenrente, die steuerfrei ausgezahlt wird. Es geht also möglicherweise um viel Geld.
Was geht das Betriebsräte an?
Sie sind oft genug erster Ansprechpartner für Verunglückte und werden um Rat gebeten oder dienen als Zeugen. Deshalb ist es hilfreich, wenn sie sich wenigstens in Grundzügen im Unfallversicherungsrecht auskennen. Betriebsräte, sagt IGBCE-Justiziar Peter Voigt, sollten nach einem Unfall beruhigend auf verunfallte Kolleginnen und Kollegen einwirken. Ihr Rat sollte sein: Erst mal zu sich kommen – bevor man etwas Falsches sagt, wodurch den Betroffenen am Ende viel Geld durch die Lappen geht.
Die in diesem Text dargestellten Fälle basieren auf einem Vortrag, der bei der Rechtspolitischen Tagung der IGBCE im September in Hannover gehalten wurde. Dort referierten Carsten Karmanski, Richter am Bundessozialgericht, und Christine Osterland, Richterin am Sozialgericht und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundessozialgericht, über das Unfallversicherungsrecht. Die Rechtspolitische Tagung der IGBCE hat sich binnen weniger Jahre zu einer beliebten und geschätzten Veranstaltung auch für Betriebsrätinnen und Betriebsräte entwickelt.