Was tun bei Tarifflucht?
Der Fall Adidas bewegt die IGBCE-Welt (siehe auch Interview). Das weltberühmte Unternehmen steigt aus dem Tarifvertrag aus. Was können Betriebsräte tun, wenn Unternehmen Tarifflucht begehen? Bernd Kupilas gibt einen Überblick über die Rechtslage.
Tarifvertragsgesetz
Paragraf 3, Absatz 3 des TVG lautet: „Die Tarifgebundenheit bleibt bestehen, bis der Tarifvertrag endet.“
Tarifvertragsgesetz
Paragraf 4 Absatz 3 lautet: „Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten.“
Tarifvertragsgesetz
Die Nachwirkung ist in Paragraf 4 Absatz 5 des TVG geregelt: „Nach Ablauf des Tarifvertrags gelten seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.“
Betriebsverfassungsgesetz
In Paragraf 77 Absatz 3 heißt es: „Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.“
Betriebsverfassungsgesetz
Die Neutralitätspflicht ist in Paragraf 74 geregelt.
Grundgesetz
Artikel 5, Absatz 1
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 14.2.1967 – Az.: 1 AZR 494/65 – DB 1967, 815
Tarif futsch – was gilt jetzt?
Wenn ein Unternehmen aus der Tarifbindung flieht und den Arbeitgeberverband verlässt (oder wie im Falle Adidas in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung wechselt), heißt das noch lange nicht, dass die bislang gültigen Tarifverträge keine Wirkung mehr entfalten. Das Tarifvertragsgesetz regelt hier zwei verschiedene Sachverhalte: die Nachgeltung und die Nachwirkung.
Was ist Nachgeltung?
Nachgeltung besagt, dass ein Tarifvertrag in dem betreffenden Unternehmen weiterhin gültig bleibt, solange er noch in Kraft ist. 1 Also bleibt zum Beispiel auch nach dem Austritt ein Manteltarifvertrag bindend, bis er von einer der beiden Parteien gekündigt wird. Der ausgetretene Arbeitgeber wird in der verbleibenden Zeit der Geltungsdauer weiter so behandelt, als sei er tarifgebunden, und neu eintretende tarifgebundene Arbeitnehmer erwerben noch echte tarifliche Ansprüche – so, als sei ihr Arbeitgeber noch (volles) Mitglied der tarifschließenden Vereinigung. Von diesem Tarifvertrag kann auch nicht einfach abgewichen werden, etwa durch Änderungen im Individualarbeitsvertrag oder durch eine kollektive Regelung in Form einer Betriebsvereinbarung. Auch dies regelt das Tarifvertragsgesetz. 2 Ohnehin dürfen Betriebsräte nicht so einfach Tarifbedingungen per Betriebsvereinbarung regeln. Dazu später mehr.
Was ist Nachwirkung?
Nachwirkung heißt, dass Tarifverträge weiterhin für die Arbeitnehmenden in dem betroffenen Unternehmen gelten, auch wenn sie abgelaufen sind. 3 Entgelte können also nicht einfach gekürzt, Arbeitszeiten nicht einfach erhöht werden. Die bislang geltenden Bedingungen sind fortan die Mindeststandards für die betroffenen Beschäftigten. Für neu eintretende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten sie aber nicht mehr automatisch. Sowohl neue als auch angestammte Beschäftigte können in der Nachwirkung per Individualvertrag abweichende Bedingungen vereinbaren. Häufig legt der Arbeitgeber nach einem Verbandsaustritt neue Arbeitsverträge vor, die nachwirkendes Tarifrecht ablösen. Betriebsräte sollten den Beschäftigten dringend abraten, einen solchen individuellen Vertrag ungeprüft zu unterschreiben.
Tarif ist Gewerkschaftssache
Gern argumentieren tarifflüchtende Unternehmen, der Austritt aus dem Tarifvertrag sei doch gar kein Problem, man würde Entgelte und Arbeitsbedingungen künftig in einer Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat regeln. Das ist aber gar nicht möglich. Das Betriebsverfassungsgesetz belegt Betriebsräte hier mit einer sogenannten Regelungssperre. 4 Sie dürfen keine Tarifverträge abschließen oder tarifliche Bestimmungen per Betriebsvereinbarung regeln (es sei denn, der Tarifvertrag enthält eine entsprechende Öffnungsklausel). Zwar könnten in einer Betriebsvereinbarung zum Beispiel die grundsätzliche Struktur von Entgeltgruppen oder die Verteilung der Arbeitszeit festgelegt werden, aber eben nicht die tatsächliche Höhe der Vergütung oder die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit. Dieses Privileg ist aus guten Gründen den Gewerkschaften vorbehalten.
Wie neutral muss ein Betriebsrat sein?
Kommt es zum innerbetrieblichen Streit um eine Tarifbindung wie jetzt im Fall Adidas, spielen Arbeitgeber gern ein mieses Spiel und greifen Betriebsräte mit dieser Aussage an: Der Betriebsrat ist zur Neutralität verpflichtet, deshalb darf er nicht für einen Tarifvertrag werben. Tatsächlich verpflichtet das Betriebsverfassungsgesetz den Betriebsrat zur weltanschaulichen Neutralität. 5 Diese Neutralitätspflicht bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte: Zum einen dürfen Betriebsräte nicht Werbung für eine politische Partei machen. Zum anderen sind sie dazu verpflichtet, alle Arbeitnehmer zu vertreten, und nicht nur die Gewerkschaftsmitglieder. Tatsächlich, sagt Jan Grüneberg, Leiter der Abteilung Mitbestimmung bei der IGBCE, „wäre es unzulässig, wenn Betriebsräte in ihrer Funktion für einen Tarifvertrag werben“. Zugleich aber ist es durchaus zulässig, dass sie als Gewerkschaftsmitglieder oder in ihrer Funktion zum Beispiel als Vertrauensmann oder -frau oder auch als Mitglied einer Tarifkommission für eine tarifliche Bindung werben. Sie können sich hier auf die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit berufen. 6
Die richtigen Worte finden
Gibt es Stress im Betrieb und nutzt der Arbeitgeber den Vorwurf der Neutralitätsverletzung zu aggressiver Agitation gegen den Betriebsrat, sollten Betriebsräte auf Nummer sicher gehen, ihre Worte wägen und darauf achten, in welcher Rolle sie sprechen. „Ich als Gewerkschaftsmitglied finde einen Tarifvertrag gut“, sei in jedem Fall eine zulässige Äußerung, erklärt Grüneberg. Im Zweifel ist dies aber auch die Aussage: „Ich finde einen Tarifvertrag gut.“ „Im Streitfall kann man argumentieren: Hier habe ich als Gewerkschaftsmitglied, nicht als Betriebsratsmitglied gesprochen“, erklärt Jurist Grüneberg. Die Aussage „Ich als Betriebsrat …“ hingegen kann problematisch werden.
Grüneberg weist aber darauf hin, dass das Bundesarbeitsgericht in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1967 die Redefreiheit von Betriebsräten zu Tarifthemen relativ weit gefasst hat. 7 „Der Betriebsrat kann über Tarifthemen informieren“, erklärt Grüneberg. „Voraussetzung ist, dass die Themen den Betrieb oder die dort Beschäftigten betreffen.“ Zumal gleichzeitig ja gilt: Der Betriebsrat hat über die Einhaltung von tariflichen Bestimmungen im Betrieb zu wachen. Auch in diesem Zusammenhang kann der Betriebsrat sich recht weitgehend frei äußern und seine Wächterfunktion über den Tarifvertrag und dessen Nachgeltung oder -wirkung zur Information der Beschäftigten über Sinn und Vorteil eines Tarifvertrags nutzen.
Vorsicht bei Sachmitteln
Die Redefreiheit von Betriebsräten zum Thema Tarif darf man also getrost weit auslegen und sollte sich hier nicht so leicht vom Arbeitgeber einschüchtern lassen. Schwieriger wird es, wenn es um die Nutzung von Sachmitteln geht, die der Arbeitgeber dem Betriebsrat zur Verfügung gestellt hat. Diese sind gemäß Betriebsverfassungsgesetz zur Erfüllung der Aufgaben des Betriebsrats gedacht. Deshalb kann es schwierig sein, wenn die Tarifkommission im Büro des Betriebsrats tagt oder wenn mediale Einrichtungen des Arbeitgebers für Tarifinformationen genutzt werden, zum Beispiel das schwarze Brett. „Hier müssen Betriebsräte aufpassen und sollten sich nicht angreifbar machen“, sagt Grüneberg.
Fazit
Paragrafen sind im Kampf gegen Tarifflucht nur eine der Waffen, sagt Andreas Henniger, Leiter der Abteilung Tarifrecht bei der IGBCE in Hannover. „Die gesetzlichen Regelungen können in der Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber nützlich sein, aber noch wichtiger ist, dass man den politischen Kampf aufnimmt und damit ein klares Ziel verfolgt, nämlich wieder eine Tarifbindung durch Rückkehr in den Verband oder Haustarifvertrag herzustellen.“ Politischer Kampf heißt: Die Belegschaft organisieren, neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter finden, Mitglieder werben – bis man im Betrieb durchsetzungsfähig ist. Für die Mobilisierung können juristische Argumente durchaus hilfreich sein, etwa dieses: „Schau, Kollege, wie gut, dass wir bislang einen Tarifvertrag hatten, er gilt (oder wirkt) jetzt noch nach. Tritt ein und sichere dir die Rechte.“
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