Interview

Oktober | November 2025

„Tausende Jobs stehen im Feuer“

Wie dramatisch die Lage unserer Branchen ist, worüber der Gewerkschaftskongress deshalb diskutieren muss und welche Botschaften die IGBCE dem Bundeskanzler mitgeben wird, erklärt Michael Vassiliadis im Interview mit Bernd Kupilas.

Michael Vassiliadis ist Vorsitzender der IGBCE.

Foto: Stefan Koch

Michael, vor uns steht der Gewerkschaftskongress. Was wird das beherrschende Thema sein?

Bei mehr als 500 Anträgen diskutieren wir natürlich über eine Vielzahl von Themen. Aber klar ist auch: Über allem stehen die Herausforderungen in unseren Branchen. Was wir gerade erleben, ist beispiellos: In unseren Betrieben gehen auf breiter Front Arbeitsplätze verloren. Wenn das so weitergeht, brechen uns ganze Wertschöpfungsketten weg. Das kann und darf nicht sein.

Lässt sich das Ausmaß der aktuellen Krise beziffern?

Das Produktionsniveau in unseren Branchen liegt mittlerweile 20 Prozent unter dem Stand von vor der Coronakrise. Wir haben jüngst mal durchgezählt und kommen auf 28.000 Arbeitsplätze in rund 260 Betrieben, die wegfallen sollen, in weiteren 70 Betrieben sind 12.000 Beschäftigte auf Kurzarbeit gesetzt. Kurz und gut: 40.000 Arbeitsplätze stehen im Feuer. Meist bedeutet das nicht, dass die vom Abbau betroffenen Kolleginnen und Kollegen in die Arbeitslosigkeit rutschen. Wir organisieren das sozialverträglich, niemand fällt ins Bergfreie. Aber Tatsache ist auch: Die Wertschöpfung, die hinter den abgebauten Arbeitsplätzen steht, ist ein für alle Mal weg. Das wird Auswirkungen auf unseren Wohlstand haben. Diese Entwicklung bewegt unsere Betriebsrätinnen und Betriebsräte und unsere Vertrauensleute verständlicherweise zutiefst. Wir brauchen dringend einen Haltepunkt.

Was ist der Grund für die Entwicklung?

Der Standort leidet unter den geopolitischen Verwerfungen und unter hausgemachten Problemen. Wir brauchen endlich einen bezahlbaren Strompreis und eine Klimapolitik, die den Betrieben Luft zum Atmen lässt. Statt der reinen Lehre brauchen wir Pragmatismus.

Wir brauchen kurzfristige Entlastungen insbesondere für energieintensive Unternehmen, zum Beispiel bei der CO₂-Bepreisung.

Michael Vassiliadis

Wie könnte dieser Pragmatismus aussehen?

Lasst uns die Emissionen zunächst dort reduzieren, wo dies am schnellsten, günstigsten und effizientesten geht. Außerdem brauchen wir nach Jahrzehnten der Ausstiege jetzt ein Jahrzehnt der Einstiege – in grüne Wasserstoffnetze, in die CO₂-Einlagerung, in den Aufbau eines nachhaltigen und bezahlbaren Energiemarkts. Wir brauchen jetzt einen industriepolitischen Befreiungsschlag. Wir werden auf dem Gewerkschaftskongress diskutieren, wie der aussehen kann. Wir brauchen kurzfristige Entlastungen insbesondere für energieintensive Unternehmen, zum Beispiel bei der CO₂-Bepreisung. Wir können ihnen nicht über teure Zertifikate Geld wegnehmen, das sie für Investitionen in die Transformation benötigen.

Was verlangst du von der Bundesregierung?

Dass sie aufhört, sich auf Nebenkriegsschauplätzen zu verzetteln, etwa in einer Debatte um Arbeitszeiten, und sich dem Hauptschauplatz zuwendet. Und das ist der Erhalt des Industriestandorts Deutschland. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Das Kongressmotto lautet nicht ohne Grund: „Das Richtige tun!“ In Hannover werden wir das mit den führenden Köpfen der Koalition diskutieren. Der Bundeskanzler kommt, und er kann sich darauf verlassen, dass wir ihm etwas zu sagen haben.

Wie wird die Krise die gewerkschaftliche Arbeit im Betrieb ändern?

Wir werden konfliktfähiger werden, denn wenn die Standorte klein- oder dichtgemacht werden, wenn Manager ganze Branchen ins Ausland verlagern wollen, werden wir dazu nicht einfach ja sagen. Zugleich geben wir unsere Kultur der Konstruktivität nicht auf. Damit wir in dieser Krise als Interessenvertretung schlagkräftig agieren können, ist es nötig, dass unsere Betriebsräte mit stärkeren Instrumenten der Mitbestimmung ausgestattet werden. Auch das ist eine unserer Forderungen an die Politik, über die wir auf dem Kongress reden werden.

Freust du dich auf den Kongress?

Ja, sehr. Der Gewerkschaftskongress ist der Höhepunkt unserer gewerkschaftlichen Demokratie, und er ist ein Quell innovativer Ideen auch für unsere eigene Aufstellung. Gleichzeitig unterstützen wir uns gegenseitig. Gerade in schweren Zeiten ist es wichtig, dass wir Stärke und Solidarität zeigen. Ich bin sicher, dass das der Fall sein wird.