Recht

August | September 2025

Der schöne Schein der Flexibilität

Sind Deutschlands Arbeitszeiten zu unflexibel? Die neue Bundesregierung will das Arbeitszeitgesetz ändern. In der öffentlichen Debatte kommt die betriebliche Realität bisweilen zu kurz. Was Betriebsräte jetzt wissen müssen, fasst Bernd Kupilas zusammen.

Arbeitszeitgesetz

In Paragraf 3 ist festgelegt, dass die werktägliche Arbeitszeit acht Stunden nicht überschreiten darf. Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.

Gewerbeordnung

Das Direktionsrecht des Arbeitgebers ist in Paragraf 106 festgelegt.

Arbeitszeitgesetz

Paragraf 10, Absatz 1, Ziffer 11

EU-Arbeitszeitrichtlinie

Artikel 6 legt fest, dass die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden nicht überschreiten darf.

Manteltarifvertrag Chemie

Die 24-Stunden-Schichten sind in Paragraf 5, II geregelt.

Worum es geht

Die neue Bundesregierung will an die Höchstarbeitszeiten heran. Bislang ist in Deutschland im Arbeitszeitgesetz eine tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden vorgesehen. 1 Sie kann zeitweilig zehn Stunden täglich betragen. Künftig, so die Vorstellungen in Teilen der Regierung, soll eine Höchstarbeitszeit pro Woche – und nicht mehr pro Tag – gelten. Dies soll mehr Flexibilität erlauben, um die Arbeitszeiten besser über eine Woche verteilen zu können, so die Argumentation der Befürworter. In der Öffentlichkeit werden die Pläne kontrovers aufgenommen. So ergab jüngst eine Umfrage, dass 38 Prozent der Befragten die Pläne der Regierung für eine wöchentliche Höchstarbeitszeit befürworten, 20 Prozent sie ablehnen.

Was das Problem ist

Peter Voigt, Justiziar bei der IGBCE in Hannover, hält die Vorstellungen von der schönen neuen Welt der flexiblen Arbeitszeiten, die Beschäftigte ganz nach ihren Vorstellungen über die Woche verteilen können, für „reichlich naiv“. Denn: Wann gearbeitet wird, entscheidet im Zweifel zunächst der Arbeitgeber. Der entscheidende Paragraf hierzu steht in der Gewerbeordnung. Darin ist das Direktionsrecht des Arbeitgebers festgelegt. 2 Er bestimmt über „Inhalt, Zeit und Ort der Arbeitsleistung“. Experte Voigt sagt: „Viele Menschen denken: Ich arbeite bislang acht Stunden an fünf Tagen. Wenn das Gesetz geändert wird, kann ich künftig an vier Tagen jeweils zehn Stunden arbeiten und habe Freitag frei.“ Dieses Modell „ist rechtlich jetzt schon möglich, gibt es aber in der Realität nicht“. Schließlich müssen an sämtlichen Tagen Maschinen betrieben, Läden geöffnet, Waren produziert und verschickt und Büros besetzt werden.

Wenn also nun das Arbeitszeitgesetz geändert wird, „dann gibt der Gesetzgeber den Arbeitgebern einen mächtigen Hebel in die Hand, mit dem sie die tägliche Arbeitszeit ausweiten können und zwar zu ihren Gunsten, und nicht zu Gunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“. Theoretisch wären künftig Arbeitstage von 12,25 Stunden möglich aus Sicht des Arbeitsschutzes eine Horrorvorstellung. Ohnehin ist die Vorstellung von der freien Verteilung der Arbeitszeit aus Sicht von Produktionsbeschäftigten und insbesondere von Beschäftigten in Schichtarbeit ein Hohn: Sie sind stark von der Taktung der Produktion abhängig und brauchen einen festen Arbeitszeitrahmen, damit die hohe gesundheitliche Belastung durch wechselnde Schichten überhaupt zu packen ist.

Hat das Direktionsrecht Grenzen?

Ja. Der Arbeitgeber hat „nach billigem Ermessen“ zu handeln und muss auch die Interessen der Beschäftigten berücksichtigen. „Billiges Ermessen“ ist freilich ein reichlich schwammiger Begriff. Stärker sind dagegen die weiteren Einschränkungen, die das Gesetz vorsieht: Der Arbeitgeber muss sich an Betriebsvereinbarungen und tarifliche Bestimmungen halten. Hier kommt die Gewerkschaft ins Spiel.

Was jetzt schon möglich ist gesetzlich

Schon heute bietet das Arbeitszeitgesetz „ausreichend Möglichkeiten für flexible Arbeitszeiten“, sagt IGBCE-Justiziar Peter Voigt. Das Gesetz ist voller Paragrafen, die Abweichungen und Ausnahmen regeln, etwa wenn in den Arbeitszeiten Bereitschaftsdienste enthalten sind. So gilt das generelle Verbot von Sonntagsarbeit nicht für Unternehmen der Energie- und Wasserversorgung, 3 um nur ein Beispiel der zahlreichen Regelungen zu nennen, die sich auf bestimmte Branchen oder bestimmte Tätigkeiten beziehen (etwa Arbeit im Krankenhaus). Prinzipiell sind schon heute Arbeitszeiten von 60 Stunden pro Woche möglich (sechs Arbeitstage à 10 Stunden), wenn die Zeiten entsprechend im vorgesehenen Zeitraum ausgeglichen werden. Die deutsche Regelung geht damit noch über die EU-Arbeitszeitrichtlinie hinaus, die maximal 48 Wochenarbeitsstunden vorsieht. 4

Was jetzt schon möglich ist tariflich

Wie erwähnt, findet das Direktionsrecht des Arbeitgebers seine Grenzen in tariflichen Bestimmungen. Und mit den Tarifverträgen der IGBCE ist schon heute eine Menge Flexibilität möglich und dazu noch vernünftig geregelt, sagt Dieter Bertges, Tarifexperte der IGBCE in Hannover. Das Paradebeispiel sei die Erweiterung des Ausgleichszeitraums für längere tägliche Arbeitszeiten von sechs auf zwölf Monate. Eine solche Erweiterung ist laut Arbeitszeitgesetz nur aufgrund eines Tarifvertrags möglich. „Die zwölf Monate stehen in nahezu allen unseren Tarifverträgen“, sagt Bertges.

Auch 12-Stunden-Schichten sind zum Beispiel in der Chemieindustrie schon heute in bestimmten Fällen per Tarifvertrag möglich, etwa bei Sonntagsarbeit. Bedingung ist hier, dass dadurch zusätzliche Freischichten am Sonntag erreicht werden. Zeiten oberhalb von zehn Stunden täglich sind in der Chemieindustrie an Werktagen möglich, wenn sichergestellt ist, dass von diesen langen Arbeitszeiten ein ausreichend großer Anteil als Arbeitsbereitschaft gilt, als Faustregel gilt ein Mindestanteil von 25 Prozent. Arbeitsbereitschaft ist eine Tätigkeit, bei der Beschäftigte „nichts tun, aber wach sind und jederzeit eingreifen könnten“, so umschreibt es IGBCE-Fachmann Bertges.

Selbst 24-Stunden-Schichten sind laut Tarifvertrag heute schon möglich, und zwar für die Angehörigen der Werksfeuerwehren und für Sanitätspersonal, wobei gilt: Die ersten acht Stunden sind normale Tätigkeit, die zweiten sind Arbeitsbereitschaft, die dritten sind Bereitschaftsruhe (also die Möglichkeit zu schlafen). 5

Der Vorteil von tariflichen Regelungen: Sie kommen eben nicht nur den Arbeitgebern zugute, sondern auch den Beschäftigten, etwa durch Zulagen. So ist unter Schichtbeschäftigten eine Regelung besonders beliebt, die die IGBCE ebenfalls per Tarifvertrag festgeschrieben hat: die Möglichkeit von über die Schicht verteilten Kurzpausen (statt der vorgesehenen halben Stunde je Acht-Stunden-Schicht). Diese Kurzpausen von mindestens drei Minuten nämlich gelten als Arbeitszeit und werden voll bezahlt, und zwar auch während des Urlaubs oder bei Krankheit.

Fazit

Die Vorstellungen, die in der Bundesregierung derzeit diskutiert werden, sind reichlich unausgegoren. Flexible Wochenarbeitszeiten mögen etwa für Bürobeschäftigte sinnvoll sein, die mithilfe von Homeoffice ihre Arbeit erledigen wollen – und auch das ist nur eine kleine Gruppe von Beschäftigten. Generell droht eine weitere Entgrenzung der Arbeitszeiten. Für Produktionsbeschäftigte sind regelmäßige 10- oder 12-Stunden-Schichten ohnehin eine Horrorvorstellung. Schon heute gibt es genügend Möglichkeiten, Arbeitszeit flexibel zu gestalten. Der Königsweg hierzu ist eine tarifliche Lösung, wie sie im Organisationsbereich der IGBCE seit Jahren gelebt wird. Hier gilt das Prinzip: keine Leistung ohne Gegenleistung. Sollen Arbeitszeitregeln reformiert werden, dann wird es darauf ankommen, dass Beschäftigte mehr Arbeitszeitsouveränität erhalten.

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