Praxis

August | September 2024

So geht Inklusion

Sie helfen bei der Orientierung durch den dichten Paragrafendschungel. Sie sind erste Anlaufstelle für Beschäftigte mit sichtbaren und unsichtbaren Einschränkungen und sie unterstützen bei jeglicher Form von ­Anträgen, in denen es um Teilhabe, Prozente oder Gleichstellung geht. Doch Schwerbehindertenvertretungen (SBV) sind viel mehr als Gehilfen beim Ausfüllen von Formularen. Mit eigenen Projekten gehen sie voran. Wie sie das angehen, haben die Sieger des ersten IGBCE-Inklusionspreises unserer Autorin Kathryn Kortmann erzählt.

Für ihre herausragenden Projekte wurden Uwe Wedegärtner und Elisabeth Ehser-Mockel (beide SBV Takasago) und Frank Pertzsch (KSBV Leipziger Gruppe/rechts im Bild) mit dem ersten Inklusionspreis der IGBCE ausgezeichnet.

Foto: Philip Bartz

Wie lebt es sich mit einem eingeschränkten Blickfeld? Oder wie fühlt es sich an, mit einem Tremor in den Händen am Arbeitsplatz Flüssigkeiten umzufüllen? „Gesunde Menschen können sich nicht vorstellen, was für Menschen mit Handicaps Alltag ist“, sagt Uwe Wedegärtner. Beim Aromenhersteller Takasago Europe am Standort im nordrhein-westfälischen Zülpich ist das jetzt anders. Dafür hat die dreiköpfige Schwerbehindertenvertretung, deren Vorsitzender Uwe Wedegärtner ist, beim letzten Gesundheitstag des Unternehmens zusammen mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) gesorgt. Die SBV war dort mit einem eigenen Stand vertreten, an dem jede und jeder per Anzug in ein Handicap schlüpfen konnte, um zu erfahren, wie es ist, wenn Gelenke versteift sind, die Hand unkontrolliert zittert, Muskeln und Extremitäten sich schwer wie Blei anfühlen oder die Sehkraft eingeschränkt ist. Das Simulationsangebot der SBV entpuppte sich an diesem Tag nicht nur als Renner, sondern war „ein echter Gamechanger in der Wahrnehmung dessen, was Menschen mit Beeinträchtigungen tagtäglich leisten“, sagt Wedegärtner.

Ein Perspektivwechsel, den die SBV sich ganz bewusst zum Ziel gesetzt hat. „Inklusion spricht schließlich nicht nur die Kolleginnen und Kollegen mit Handicaps an“, erklärt Wedegärtner. „Wenn Inklusion gelingen soll, müssen ganz gezielt auch alle anderen mit ins Boot geholt werden, Beschäftigte ohne Beeinträchtigungen ebenso wie Vorgesetzte.“ Deshalb hat die SBV bei Takasago ihre Kommunikation umgestellt. Einerseits, um eine größere Öffentlichkeit zu erreichen und auf allen Ebenen dafür zu sensibilisieren, und andererseits, um den von Handicaps betroffenen Beschäftigten zu signalisieren, dass sie sich nicht verstecken müssen. „In ihrer Ansprache sind wir persönlicher geworden“, erzählt Elisabeth Ehser-Mockel, stellvertretende Vertrauensfrau der SBV. „Statt per E-Mail laden wir sie jetzt auf althergebrachte Art per gelber Post ein.“ Mit Erfolg: Die SBV-Treffen sind jetzt nicht nur deutlich besser besucht, „die teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen gehen auch offener mit ihrer Situation um.“

Die IGBCE hat 2024 erstmals einen Inklusionspreis verliehen. Preisträger sind die SBV von Takasago in Zülpich in der Kategorie für unter 500 Beschäftigte und die Leipziger Gruppe (LVV) für mehr als 500 Beschäftigte. Gewürdigt werden mit dem Preis Projekte, die Inklusion nicht als Konzept, sondern als gelebte Praxis begreifen.

Abbau von Vorurteilen und Barrieren

Aktiv ist die SBV auch auf die betrieblichen Führungskräfte zugegangen. Im Angebot hatte sie mehrere Onlineschulungstermine, die über SBV-Recht informierten und den Umgang mit Schwerbehinderten thematisierten. Die Teilnahme an den dreistündigen Terminen war freiwillig. Dass 75 Prozent der Führungskräfte daran teilnahmen, wertet Uwe Wedegärtner als Erfolg und als Zeichen der Bereitschaft, „Vorbehalte und Vorurteile abzubauen und aktiv daran mitzuwirken, Schwerbehinderung als Chance zu begreifen und Inklusion zu leben“. Und Helmut Schiebe, zweiter SBV-Stellvertreter, fügt hinzu: „Wir stellen eine höhere Gesprächsbereitschaft fest. Bei Bauentscheidungen werden wir jetzt im Vorfeld mit ins Boot geholt.“ Dass selbstöffnende Türen nicht nur in Bereichen, in denen Rollstuhlfahrer unterwegs sind, sinnvoll sind, sondern auch Beschäftigte mit Rückenproblemen entlasten, ist jetzt weniger umstritten. Und im Neubau wurden erstmals auch Duschkabinen für schwerbehinderte Beschäftigte eingebaut, die sie vor den Blicken der anderen abschirmen.

LVV hebt Inklusion auf neues Level

Wird neu gebaut, geschieht das auch bei der Leipziger Gruppe (LVV) stets barrierefrei. Dazu werden immer auch Behindertenparkplätze geschaffen. Aus gutem Grund: Denn die zwar noch junge, aber trotzdem schon frisch überarbeitete Konzernbetriebsvereinbarung (KBV) der LVV garantiert jedem Beschäftigten mit einem sogenannten Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis einen kostenlosen betriebsnahen Parkplatz. Das sind nur zwei Beispiele aus einem umfangreichen Maßnahmenkatalog, mit dem die Konzern-SBV der Leipziger Gruppe angetreten ist, um Barrieren abzubauen und eine Kultur der Chancengleichheit zu etablieren. „Echte Chancengleichheit“, betont Frank Pertzsch, Konzernschwerbehindertenvertreter, „denn Inklusion geht alle an – und funktioniert nur, wenn wirklich alle Beschäftigten, egal ob behindert oder nicht behindert, und auch unsere Führungskräfte mitbedacht werden und auch mitziehen.“

Zur LVV-Holding gehören 14 Einzelunternehmen, unter ihnen die Leipziger Wasser- und Stadtwerke oder die Verkehrsbetriebe. Jedes Unternehmen kochte ursprünglich sein eigenes Süppchen in Sachen Integrationsvereinbarung für beeinträchtigte Kolleginnen und Kollegen. Das hat sich 2019 geändert, als erstmals eine Konzernbetriebsvereinbarung in Kraft trat, die Arbeitsplatzumgestaltung, Führungskräfteschulungen, Qualifizierung und Präventionsmaßnahmen seither verbindlich regelt und für mehr Barrierefreiheit am Arbeitsplatz und in der Kommunikation sorgt. Sie ermöglicht es leistungsgewandelten Beschäftigten zum Beispiel, sich an Arbeitsplätzen zu erproben, bis eine geeignete Beschäftigung gefunden ist. Außerdem haben gleichgestellte Kolleginnen und Kollegen zwei Tage Zusatzurlaub, mit dem sie sich mehr erholen können.

Der Zuschuss für eine Ferienbetreuung ist eine Maßnahme, die Eltern Luft im Alltag verschafft.

Frank Pertzsch

Wie Seminare unterstützen

„Das war ein super Anfang“, resümiert Frank Pertzsch, „aber noch nicht der Weisheit letzter Schluss.“ Deshalb wurde die KBV noch einmal überarbeitet, aktualisiert und erweitert. Seit März 2024 fallen nicht nur Beschäftigte, die selbst eine Behinderung haben oder gleichgestellt sind, unter ihren Geltungsbereich. So profitieren nun zum Beispiel auch Kolleginnen und Kollegen, die ein behindertes Kind haben, von der neuen KBV. Bis zum Erreichen der Volljährigkeit ihrer Kinder erhalten sie pro Jahr einen Zuschuss von 500 Euro für eine qualifizierte Ferienbetreuung. „Eine Maßnahme, die Eltern Luft im oft anstrengenden Alltag verschafft und zur eigenen Gesunderhaltung beiträgt“, sagt Frank Pertzsch, der sich seit 2012 als Schwerbehindertenvertreter engagiert und die SBV in der Leipziger Gruppe deutlich sichtbarer gemacht hat. Geholfen haben ihm dabei auch einige SBV-Seminare der IGBCE, die er im Laufe der Jahre besucht hat.Dabei habe ich viele Anregungen und Tipps für eine erfolgreiche Arbeit vor Ort bekommen“, berichtet Pertzsch. Tipps, die der LVV-SBV nicht nur 2019 den Deutschen Betriebsrätepreis in Bronze und 2024 den ersten IGBCE-Inklusionspreis beschert haben, sondern die Inklusion in der Leipziger Gruppe auf ein neues und für alle Beteiligten gewinnbringendes Level gehoben haben.